„Haben Sie den Täter?“
Ohne zu antworten, schob ich ihm das Foto von Meyerfeld zu und wartete seine Reaktion ab.
„Das…das ist ja Maathes!“
„Wer ist Maathes?“
„Matthias Meyerfeld. Ein Gastwirt hier aus Trier. Hat seine Kneipe im Südteil der Stadt. ‚Fischers Maathes’ heißt sie bezeichnenderweise. Sagen Sie … es sieht aus, als ob … er ist tot, nicht wahr?“
„Ja, er ist tot. Kannten Sie ihn näher?“
„Nun ja, ich persönlich kannte ihn weniger. Aber Kalle, mein Chef, war mit ihm befreundet. Haben des Öfteren gemeinsame Touren unternommen oder auch hier bei uns in der Kneipe getagt. Meist waren auch die anderen dabei.“
„Die anderen?“
„Ja, das war so ein Freundeskreis, eine Clique. Gastwirte unter sich. Haben sich alle immer gut verstanden. Einer hat dem anderen geholfen, wenn es mal Probleme gab. Aber dass Maathes jetzt tot ist. Schrecklich!“
„Und Kalle!“
„Und Kalle.“ Stenzel schien nachzudenken.
„Glauben Sie, dass es da Verbindungen gibt? Ich meine, dass beide innerhalb von zwei Tagen dran glauben mussten.“
„Sie wissen, was genau passiert ist?“, hörte ich Leni fragen.
„Das spricht sich rum. Seit heute weiß ich es.“
„Und? Haben Sie eine Erklärung, eine Vermutung?“
„Nein!“ Stenzel wandte sich wieder seinen Gläsern zu und schien in Gedanken versunken.
„Was bereitet Ihnen Kummer?“ Ich beugte mich zu Stenzel vor.
„Ich weiß nicht. Ich frage mich nur, warum gerade die beiden? Warum innerhalb dieser kurzen Zeit?“
„Hatten die beiden Feinde? Hatten sie in letzterer Zeit größere Probleme? Ich meine, mit Kunden oder anderen Geschäftsleuten?“
„Nicht, dass ich wüsste. Ich muss jetzt aber weiterarbeiten, das sehen Sie doch ein!“
Wir überließen Stenzel seinen Arbeitsplatz und fuhren nach Trier-Süd zur Gaststätte „Fischers Maathes“.
Die Gaststätte hatte geschlossen. Ob erst seit heute oder schon länger, das musste sich herausstellen. Ich klingelte an der Haustür des Nachbarhauses und eine Frau im gesetzten Alter lehnte sich im Obergeschoss aus dem Fenster. Ihre graumelierten Haare waren dicht bei dicht von Lockenwicklern umgeben und ihr Gesicht machte irgendwie einen verkniffenen Eindruck. Ihren überdimensionalen Busen hatte sie auf dem unteren Fensterrahmen abgelegt.
„Wir sind von der Kripo“, rief ich der Frau zu. „Wie lange ist die Gaststätte schon geschlossen?“
„Kann ich Ihnen nicht genau sagen, ich glaube sie war heute und gestern nicht geöffnet.“
„Hat Meyerfeld die Kneipe alleine geführt?“
„In den meisten Fällen, ja. Ab und zu hat er mal eine Bedienung eingestellt. Die haben aber immer gewechselt.“
„Kennen Sie eine dieser Bedienungen?“
„Nein, ich habe auch nicht das Bedürfnis, eine kennen zu lernen.“
Das Schlagen des Fensterflügels teilte uns unmissverständlich mit, dass das Gespräch beendet war.
„Komm, Leni, auf zur Dienststelle!“ Für heute hatte ich die Nase voll. Wittenstein hatte ja für enorme Verstärkung gesorgt. Es war an der Zeit, dass die Kollegen sich nun der Kleinarbeit annahmen.
„Du kannst stolz auf deinen Sohn sein!“ Der junge Mann kniet vor dem Rollstuhl in dem kalten, halbdunklen Krankenzimmer und hält beide Hände der Frau, die er seine Mutter nennt. „Ich habe den nächsten Schritt getan, für dich, das weißt du doch. Und du wirst sehen, ich werde mein Versprechen bis zum Ende halten. Niemand wird entkommen. Alle werden für ihre Frevel büßen. Sie werden alle ihre gerechte Strafe finden, hier auf Erden, und auch später vor Gott. Hier auf Erden werde ich ihr Richter sein!“
Die Frau, die der junge Mann seine Mutter nennt, lächelt. Der Raum liegt auch an diesem Tag, so kurz vor Sonnenuntergang in einem deprimierend fahlen, ja der Situation entsprechend geheimnisvollem Licht. Die Frau lächelt in sich hinein, doch es sind nicht die Worte des jungen Mannes, ihres Sohnes, die ihr zu Herzen gehen, denn diese Worte hört sie nicht, nimmt sie nicht wahr.
In ihrer eigenen Welt, da hat sie sich ihr Leben eingerichtet, fern voll den irdischen Sorgen, Qualen und traurigen Erinnerungen. Sie ist weit davon entfernt, Gefühle wie Wut, Freude oder Rache zu empfinden. Was der junge Mann ihr mitzuteilen versucht, hätte sie vor einiger Zeit noch mit Tränen in den Augen dankbar bestätigt oder, was wahrscheinlicher ist, vehement abgelehnt. Doch die Zeit der irdischen Gefühle ist für sie vorbei. Ihre neue Welt ist Frieden, überirdischer Frieden, ohne jeglichen Bezug zu dem, was der Mensch als Trauer oder gebrochenem Herzen versteht.
„Wir werden irgendwann zusammen sein, für immer, du und dein Sohn. Und wir werden alle die wieder treffen, die wir lieben, die wir nicht verlieren wollten. Die man uns genommen hat!“
Der Blick des jungen Mannes hat sich verdunkelt. Er steht auf und küsst die Hände seiner Mutter.
„Ich werde zu Ende bringen, was ich begonnen habe. Nur dann kann ich meinen Frieden finden.“
Die Frau lächelt, und dem jungen Mann scheint es, als habe sich ein Seufzer von ihren Lippen gelöst. Er kniet erneut vor ihr nieder. Doch die Augen, in die er sieht, sind kraftlos, ja, fast stumpf anzusehen. Da ist kein Leben in ihnen, in ihren Pupillen ist der Vorhang zur Realität gänzlich gefallen.
Die Frau lächelt und dem jungen Mann fließen Tränen über die Wangen.
„Mutter, ich hätte dich so gebraucht. Warum hat man uns das angetan?“
Der Montag brachte kaum Neuigkeiten. Keinen Fortschritt in den Ermittlungen, aber auch keinen weiteren Toten.
Steiner allerdings hatte sich mächtig ins Zeug geworfen. Der „Trierer Merkur“ berichtete mit einem übergroßen Aufmacher. „Die Bestie vom Saar-Hunsrück-Steig“ stand da in großen Lettern und ich traute meinen Augen nicht. Steiner hatte nichts von dem Anrufer der unbekannten Person und seinen weiteren Absichten berichtet. Das rechnete ich ihm hoch an, denn Panik unter die Bevölkerung zu bringen, wäre gerade in so einem Moment wie jetzt total überflüssig gewesen. Doch die Todesart hatte er nicht verschwiegen und dem Leser musste es eiskalt den Rücken hinunterlaufen beim Studieren der Lektüre. Auch auf die unbekannte Person mit der Kapuze, die zur Auffindungszeit der Leiche im angrenzenden Wald von Steiner auf einem Foto abgelichtet worden war, wies der Reporter hin und bat im Namen der Ermittler um sachdienliche Hinweise.
Die Obduktionen waren für dreizehn Uhr angesetzt worden. Die Leichen von Karl Leyenhofer und Matthias Meyerfeld waren, ich hatte es vorausgesehen, ins Brüderkrankenhaus nach Trier gebracht worden, denn die Voraussetzungen für eine Obduktion waren in Hermeskeil nicht gegeben. Leni und ich kamen ziemlich pünktlich dort an und begaben uns zielstrebig zum Sezierraum.
Und wieder erwartete uns dort das Team, das offensichtlich immer dann Dienst hatte, wenn im Trierer Raum jemand gewaltsam zu Tode kam.
Das erste, das ich sah, war das linke Auge von Wladimir Kornsack, dem Gehilfen von Professor Theodor Schneider. Kornsack stand gebeugt über einer vor ihm nackt auf dem metallenen Sektionstisch abgelegten männlichen Leiche und bereitete diese offenbar für die Obduktion vor. Das Auge beobachtete uns, als wir in den Sektionsraum eintraten, das zweite Auge war noch geschlossen. Es würde sich öffnen, ich wusste das, aber etwas später, das war für das Augenpaar von Kornsack ganz normal.
Das rechte Auge war aufgrund eines geschädigten Nervs nicht in der Lage, so zu reagieren, wie Kornsack es eigentlich wollte. Es sah schon recht makaber aus. Kornsack sah immer noch zu uns herüber, mit dem linken Auge. Doch dann bewegte es sich, das rechte. Das Lid öffnete sich und ein Anflug von Erleichterung glitt über Kornsacks Gesicht. Er nickte uns kurz zu, lächelte zufrieden und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
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