1 ...7 8 9 11 12 13 ...28 Die Augen der Frau schauen ins Leere, ihnen fehlt der Glanz, der sich noch vor einigen Jahren in ihnen verfestigt hatte. Ein leichtes Lächeln hat sich auf ihre Mundwinkel gelegt, ein Lächeln, das alles bedeuten kann, Schmerz und Leid, Freude und Hoffnung, Bangen und Verzweiflung. Niemand wird es je erfahren, auch nicht der junge Mann, der hinter dem Rollstuhl stehend, mit feuchten Augen aus dem Fenster sieht, den Schultergürtel der Frau leicht massierend.
„Ich habe es für dich getan, Mutter!“, flüstert der junge Mann, um dann seine Stimme zu erheben. „Für uns alle. Und ich werde es wieder tun. So lange, bis du deinen Frieden findest. So lange, bis es vollbracht ist. Ich bin der Engel, der die Botschaften überbringt. Die tödlichen Botschaften. Botschaften für diejenigen, die ihrer harren, ohne es zu wissen.“
Der Mann atmet schwer, seine Brust hebt und senkt sich, seine Mundwinkel zucken. Entschlossenheit, gepaart mit Hass und Verzweiflung haben sein Gesicht zu einer starren Maske geformt.
Schweigend schauen beide aus dem Fenster in die hereinbrechende Nacht hinaus. In der Ferne, hinter den Laternen kann man die Gitter des hohen Zaunes erkennen, dessen Tor nur Einlass, in den seltensten Fällen, außer Besuchern natürlich, Auslass gewährt.
Die Frau scheint die Worte des jungen Mannes nicht zu verstehen, ja nicht einmal zu hören. Keine Reaktion ist bei ihr zu spüren und ihr beseeltes Lächeln verrät die Distanz, die sich zwischen Realität und einer fernen Welt gebildet hat.
„Ich habe es für dich getan!“, wiederholt der junge Mann flüsternd und hebt seinen Blick zur Zimmerdecke. Eine Träne bildet sich in seinem rechten Auge und rinnt über seine Wange bis zum Kinn, von wo aus sie zu Boden tropft. Seine Augen verengen sich, während er murmelt: „Ihr werdet büßen, das verspreche ich! Alle werdet Ihr büßen! Mein ist die Rache, spricht der Herr!“
Es wurde spät an diesem Abend und Lisa schlief schon, als ich nach Hause kam. Ich legte mich ebenfalls zu Bett, doch ich fand keinen Schlaf. Mir gingen immer wieder die Bilder dieser grausamen Tat durch den Kopf. Was hatte der Täter für ein Motiv, so etwas zu tun? Dass man aus Rache, Eifersucht oder Habgier mordete, das kam auch in unseren Gefilden oft genug vor. Aber diese Tatausführung musste einen besonderen Hintergrund haben. Welchen nur? Ohne den Hinweis auf ein Motiv würden wir es sehr schwer haben, Schlüsse zu ziehen.
Ich bedauerte insgeheim Wittenstein, der dem Hagel der Fragen durch die Presse und dem Drängen der Staatsanwaltschaft permanent ausgesetzt sein würde.
Es hatte keinen Sinn, mich im Bett herumzuwälzen. Ich stand auf und setzte mich im Wohnzimmer vor den Fernseher. Es war inzwischen vier Uhr morgens. Ich überlegte, ob ich mit etwas Alkoholischem der Bettschwere etwas nachhelfen sollte, unterließ das aber. Irgendwann schlief ich dann doch ein, begleitet von den monotonen Melodien einer endlos wirkenden Weltraumbetrachtung via Satellit.
Das Telefon riss mich aus tiefstem Schlaf. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz vor Sieben.
„Hallo Heiner!“ Es war Lenis Stimme. „Du wirst es nicht glauben. Wir haben schon wieder einen Toten. Gleiche Arbeitsweise, offensichtlich derselbe Täter. Ein Förster hat ihn gegen Sechs gefunden.
„Wieder am ‚Tirolerstein’?“ Ich rieb mir die Augen und versuchte, einigermaßen klar zu denken.
„Nein, ‚Lindenstein’ heißt dieses Wegekreuz oder Bildstock, oder wie man das Denkmal auch nennen möchte. Liegt gleich hinter Hermeskeil, auf der Strecke, die nach Nonnweiler führt. Kennst du dich da aus?“
„Nicht besonders gut. Wieso bist du schon im Dienst?“
„Der Kriminaldauerdienst hat mich verständigt. Der Erkennungsdienst ist schon unterwegs zum Tatort. Auch die Kollegen von der Polizeiinspektion Hermeskeil zur Absicherung des Tatortes. Du musst jetzt nichts überstürzen. Warte, bis ich bei dir bin! Wir fahren dann zusammen weiter.“
Ich konnte es nicht fassen. Da machte einer ganze Arbeit. Einer, dessen Hirn krank sein musste. Jemand, der in einer anderen Welt lebte. Was ging in einem solchen Menschen vor? Was veranlasste ihn zu solchen Taten?
Das erneute Klingeln des Telefons riss mich aus meinen Gedanken. Es war Wittenstein.
„Spürmann, Frau Schiffmann hat Sie ja inzwischen über den erneuten Mord informiert. So wie ich die Sache sehe, kann das doch nur derselbe Täter sein.“
„Oder eine Täterin!“, warf ich ein.
„Ja. Ja, wie auch immer. Kommen Sie bitte nach der Tatortaufnahme ins Präsidium. Ich werde eine Besprechung des gesamten Dezernates Kapitalverbrechen einberufen. Sie werden eine Mannschaft um sich brauchen.“
„Heute ist Sonntag, da werden Sie nicht viele Kollegen erreichen.“
„Das werden wir sehen. Sie als Sachbearbeiter brauche ich auf jeden Fall. Und natürlich Frau Schiffmann.“
„In Ordnung, Chef! Wir werden da sein!“
Wittenstein hatte Recht. Vielleicht waren die beiden Taten der Beginn einer Mordserie. Dann würde ich für jede Unterstützung dankbar sein
„Was ist denn hier schon am frühen Morgen los?“
Lisa stand in der Schlafzimmertür und reckte sich. Dabei hob sich ihr kurzes Negligee einige Zentimeter und ich war geneigt, Tatort Tatort sein zu lassen. Doch ich fing mich sofort wieder und ging auf Lisa zu. Ich nahm sie in den Arm und knabberte an ihrem Ohrläppchen.
„Ich muss weg, Lisa“, sagte ich leise und hörte selbst, wie enttäuscht es klang. „Es hat wieder einen Toten gegeben. Die gleiche Arbeitsweise wie vorgestern Abend. Du brauchst nicht mit dem Essen zu warten. Es wird wieder einmal spät werden.“
„Was ist mit deinem Haus? Wenn du so weitermachst, hat es einen anderen Käufer gefunden.“
Ich zuckte die Achseln. Das konnte natürlich passieren. Aber vielleicht bekam ich zwischendurch doch noch ein paar Minuten Zeit, um mich darum zu kümmern. Leni würde gleich eintreffen.
„Trink noch schnell eine Tasse Kaffee, so viel Zeit muss doch noch sein!“, sagte Lisa und goss heißes Wasser über das Kaffeepulver in der Tasse.
Ich hing schon wieder meinen Gedanken nach. Es war einfach unfassbar. Einen solchen Mord, in der Art und Weise, wie es heute Nacht offensichtlich zum zweiten Mal geschehen war, beging man entweder einmal oder es wurde eine Serie daraus. Ich hatte da so meine Theorie.
Meiner ersten Theorie würde ich das Motiv der Eifersucht zuordnen. Wenn dem so wäre, ein gehörnter Ehemann würde aber nicht auf eine solche Art und Weise vorgehen. Er würde seinen Rivalen entweder zur Rede stellen, um ihn dann auf eine konventionelle Art ins Jenseits befördern. Er würde ihn erschießen, erschlagen, von einer Brücke werfen oder etwas Ähnliches tun, nichts Spektakuläres, nur Effektivität würde zählen.
Ich wandte in meinen Vorstellungen diese erste Theorie auf eine Frau als Täterin an. Wie würde eine Frau vorgehen? Es käme sicherlich auf das Motiv an. Eifersucht? Da fiele mir Gift ein, eine typische Frauenwaffe, ein. Im schlimmsten Fall konnte ich mir auch vorstellen, dass eine Frau dieser Art von Verstümmelung fähig ist. Aber im vorliegenden Fall? Nein, diese Kraft konnte keine Frau aufbringen! Gut, sie hätte Helfer haben können! Aber es wäre bei dem einen Fall geblieben. Das Frauenmotiv wäre nach dem ersten Mord erloschen, alles andere würde zur Unlogik mutieren.
Nein, hier war ein Mann am Werk, vielleicht waren es auch mehrere. Mehrere? Nein, das glaubte ich nicht. Was hatten mehrere Männer für ein Motiv, eine derartige Tat zu begehen? Nein, wenn es eine Mordserie würde, und danach sah es tatsächlich aus, dann könnte man sich schon an den Untaten der Vergangenheit orientieren. Jack the Ripper war ein Einzeltäter, zumindest hatte es nie den Anhaltspunkt für eine weitere Täterschaft gegeben. Jack the Ripper war einer der wenigen, den ich mit der Grausamkeit der aktuellen Morde vergleichen konnte. Es war unvorstellbar. Ein Jack the Ripper hier im Hunsrück? Und es gab weitere Fragen. Warum das „Tirolerkreuz“, warum der „Lindenstein“, zu dem wir heute Morgen fahren würden?
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