Wo ist sie nur hin?, denke ich, als ich auf eine leere Sitzecke schaue. Sie kann doch nicht einfach gegangen sein!
Dann fällt mir ein, wie ich selbst zu der Kundin gesagt habe, wir würden uns draußen treffen. Zoeys Verschwinden hat mich ziemlich durcheinandergebracht. Als ich sie auch noch neben der Blondine sitzen sah, war ich erst recht verwirrt. Meine Tochter ist alles andere als zutraulich. Fremden gegenüber verhält sie sich eher schüchtern, meist versteckt sie sich vor ihr unbekannten Menschen. Ich kann nicht glauben, dass sie einfach auf jemanden zugeht, den sie noch nie zuvor gesehen hat. Das kann nur an der Frau liegen. Sie muss etwas Besonderes an sich haben, was Zoey gespürt hat. Sie scheint die Blondine zu mögen. Vielleicht vermisst sie ihre Mutter doch mehr, als ich angenommen habe. Seit sie sich kurz vor Zoeys zweitem Geburtstag aus dem Staub gemacht hat, meldet sie sich nicht mehr. Sie ist einfach mit einem Bodybuilder durchgebrannt und hat mich mit unserer Tochter zurückgelassen. Dass sie mich verlassen hat, ist eine Sache, aber wie kann eine Frau es fertigbringen und ihr eigenes Kind zurücklassen? Das ist mir unbegreiflich! Scheinbar ist die Kleine ihr egal. Zoeys Oma kümmert sich zwar rührend um ihre Enkelin, sie wird aber nie ihre Mutter ersetzen können.
Ich weiß nicht, wie ich meiner Tochter jemals das Verhalten ihrer Mutter erklären soll. Noch ist sie zu jung, um zu verstehen, was los ist. Irgendwann wird sie alt genug sein und Fragen stellen. Ich habe keine Ahnung, was ich ihr dann antworten soll.
»Haben Sie zufällig ein dreijähriges Mädchen gesehen?«, fragt mich ein älterer Herr, der über den Hof gelaufen kommt.
»Meinen Sie Zoey?«
»Ja, woher wissen Sie das?«
»Die Kleine ist mir zugelaufen, als ich im Verkaufsraum gewartet habe.«
»Wirklich? Wo ist sie jetzt?«
»Bei ihrem Vater. Ich glaube, er wollte sie zu ihrer Oma bringen.«
»Gut. Da fällt mir ein Stein vom Herzen. Vielen Dank, junge Frau!«
»Sie müssen sich nicht bedanken. Ich habe gern auf die süße Maus aufgepasst.«
»Trotzdem. Wenn mein Sohn immer daran denken würde, die Tür zum Wohnhaus zu schließen, wäre das nicht passiert.«
»Es ist ja noch mal gut gegangen.«
»Ja, zum Glück.«
»Sie sind also Zoeys Opa?«
»Ja, der bin ich. Wilfried Brand ist mein Name. Und Sie sind?«
»Mein Name ist Lisa Röhringer.«
»Angenehm«, antwortet er und streckt mir seine Hand entgegen. Ich ergreife sie und nicke ihm zu.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Mein Wagen macht so quietschende Geräusche. Bevor irgendetwas kaputtgeht, wollte ich lieber jemanden nachschauen lassen, der sich damit auskennt.«
»Das ist vernünftig. Ein Quietschen sagen Sie? Das kann vieles sein.«
»Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes.«
»Um das herauszufinden, wäre eine Probefahrt sinnvoll.«
»Okay.«
»Na Papa, guckst du schon, wo das Problem liegt?«, fragt Zoeys Vater, dessen Vornamen ich immer noch nicht kenne, als er auf uns zugelaufen kommt.
»Ja, ich würde sagen, wir sollten eine Probefahrt machen, um das Geräusch zu lokalisieren.«
»Gut, willst du oder soll ich?«
»Mach du ruhig! Ich trinke mit der Retterin meiner Enkelin so lange einen Kaffee«, sagt Brand Senior und zwinkert mir zu.
»Alles klar. Dann bräuchte ich nur noch den Schlüssel«, wendet sich der Junior mir zu.
»Ja, natürlich«, antworte ich und ziehe meinen Schlüsselbund, an dem sich der Autoschlüssel befindet, aus der Jackentasche. Ich halte Zoeys Vater den Schlüssel entgegen und er lacht laut los. Dann greift er nach dem Bund und sagt: »Mir reicht der Fahrzeugschlüssel. Mit so einer Schlüsselbatterie möchte ich nur ungern fahren.«
Der Mechaniker streift den Autoschlüssel vom Schlüsselring und übergibt mir grinsend die restlichen Schlüssel.
Mir ist die Situation peinlich. Ich spüre, wie ich ein bisschen erröte. Hastig senke ich den Blick, damit niemand meine gesunde Gesichtsfarbe sehen kann.
Als Brand Junior in den Wagen steigt und ihn startet, ertönt wieder dieses quietschende Geräusch. Statt unter die Haube zu schauen, dreht er eine Runde. Ich bete, dass mein altes Auto die Spritztour überlebt und unterwegs nicht aufgibt. Es würde mir in der Seele wehtun, es verschrotten zu müssen. Immerhin handelt es sich um meinen ersten eigenen fahrbaren Untersatz, von dem ich mich nur ungern trennen möchte.
Nachdem der Junior den Hof verlassen hat, spüre ich Brand Seniors Hand auf meinen Schultern. »Kommen Sie! Adrian macht das schon.«
Adrian heißt Zoeys Vater also. Was für ein schöner Name und so passend zu diesem gut aussehenden Mann.
In Gedanken seufze ich und lasse mich von Wilfried Brand erneut in die Verkaufshalle führen.
»Setzen Sie sich! Soll ich uns einen Kaffee aus dem Automaten holen?«
»Gerne.«
Nun stehe ich wieder vor der Sitzecke und überlege, auf welchen Platz ich mich dieses Mal setzen soll. Dann entscheide ich mich für den Sessel, auf dem ich am Anfang, bevor Zoey auftauchte, saß.
Brand Senior kommt mit zwei Kaffeebechern zu mir, stellt sie auf den Tisch und nimmt auf dem Sofa Platz.
»Woher sind Sie denn, Frau Röhringer?«
»Sie können mich gern Lisa nennen. Ich komme aus dem Harz, genau genommen aus Wernigerode.«
»Oh schön. Im Harz habe ich vor Jahren mit meiner Frau Urlaub gemacht. Das waren zwei wunderschöne Wochen. Und was führt sie zu uns nach Potsdam?«
»Meine Cousine. Sie lebt hier und ich will sie endlich wieder besuchen.«
»Ach so. Das ist ja nett.«
»Ja, ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen.«
»Hm. Und hier in der Halle ist Ihnen also unsere Zoey zugelaufen?«
»Ja, ich saß genau hier, als die Kleine um die Ecke schielte.«
»Ach ja, die Zoey. Sie hat es ziemlich schwer.«
»Darf ich fragen warum?«
»Ich möchte sie keinesfalls mit unseren Familiengeschichten langweilen.«
»Ach quatsch. Ich glaube kaum, dass sie mich langweilen.«
»Ach, ich weiß nicht.«
»Sie können mir gern ein bisschen erzählen. Warum hat es Zoey denn so schwer?«
Wie ich es hasse, erst Andeutungen machen und dann nichts sagen wollen.
»Gut, wenn Sie meinen. Na ja, Zoeys Mutter hat sie und unseren Sohn verlassen, da war sie noch keine zwei Jahre alt.«
Heißt das, Adrian ist Single? , frage ich mich gedanklich und muss mich anstrengen, ein Grinsen zu unterdrücken.
»Oh, das tut mir leid! Sie besucht ihre Tochter doch regelmäßig, oder?«
»Nein, wo denken Sie hin? Die Madam hält es für unnötig, sich um Zoey zu kümmern. Seit sie weg ist, hat sie sich nie mehr gemeldet.«
»Was? Das kann ich mir nicht vorstellen. Wie kann man so ein kleines süßes Mädchen einfach im Stich lassen?«
»Da sagen Sie was. Sie ist sang- und klanglos mit einem dahergelaufenen Kerl durchgebrannt und kümmert sich einen Dreck darum, was aus ihrer Tochter wird.«
»Dann hat Ihr Sohn es auch alles andere als leicht, oder?«
»Nein. Wenn meine Frau und ich nicht für ihn und unsere Enkelin da wären, hätte er die Werkstatt aufgeben können. Vor vierzig Jahren habe ich den Laden hier aufgemacht. Als Adrian Vater geworden ist, ging ich in Rente und überließ ihm das Geschäft. Natürlich helfe ich ab und zu noch mit. Den ganzen Tag still in der Ecke zu sitzen, ist nicht mein Ding. Ich muss immer etwas zu tun haben, sonst drehe ich durch.«
»Das glaube ich gern.«
»Wenn wir Adrian nicht unter die Arme greifen würden, wäre er aufgeschmissen. Wo sollte er auch hin mit Zoey?«
»Na ja, es gibt Kindergärten, wo die Kleinen von morgens bis abends betreut werden.«
»Das mag sein, aber so einen winzigen Wurm kann man doch nicht stundenlang zu fremden Leuten geben.«
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