Der Romeo riss einen Streifen von seinem Hemd ab. »Wir müssen die Blutung stillen.« Zaghaft kniete er sich neben Siw und drückte den Stoff auf Kamherras Schulter.
»Da ist Sand in der Wunde.« Siw spürte, dass ihre Kraft sie zu verlassen drohte. »Wir müssen sie säubern, ehe wir sie richtig verbinden können.«
»Ich kann sie zum Wasser tragen.«
Siw musterte den Romeo. Sein Gesicht war weich und die Augen musterten Kamherra mit echter Sorge. Sie beschloss ihm zu vertrauen und steckte den Revolver wieder in das selbstgebaute Halfter.
»Ich drücke den Verband drauf, während du sie trägst.«
Gemeinsam trugen sie Kam zum Wasser. Dorthin, wo die Reste ihres unbeschwerten Picknicks lagen. Siw fegte die Trümmer von der Decke, ehe der Romeo Kamherra vorsichtig drauf legte. Sie nahm ein Bruchstück der Porzellantasse und schöpfte etwas Wasser aus dem Tümpel. Der Stoffstreifen war getränkt mit Kams Blut. Siw schluckte und goss etwas Wasser über die Wunde.
»Wir brauchen mehr Verband«, seufzte der Romeo und zog sein Hemd aus. Kurzentschlossen riss er es in Streifen.
Zusammen versorgten sie die Schusswunde. Auch wenn die Kugel nicht im Fleisch steckte, war es eine ernste Verletzung.
»Woher wusstest du es?« Die Frage ließ Rixel nicht los. Noch immer sah er den Moment vor sich, als der Lauf der Waffe herum schwang und der Schuss sich löste.
»Der Name.« Siw strich sich mit der Hand über die Stirn. »Der Kerl, den Kam mit den Stricknadeln erlegt hat, hatte mir den Namen genannt.«
Mit Stricknadeln erlegt? Das wollte er sich nicht einmal vorstellen. »Ich heiße Rixel«, sagte der Romeo und knotete den Verband fest um Kamherras Schulter.
»Siw.« Sie wickelte das freie Ende der Decke um Kam. »Und das ist Kamherra.«
*
Gaius lag auf dem Rücken und starrte zum Sternenhimmel hinauf. Der Tag hatte so gut angefangen. Mit einem kräftigen Frühstück aus Würstchen und einer Tasse Tee. Und er hatte einen neuen Akku für sein Book bekommen. Von ein paar Leuten die sich begeistert seine Geschichten angehört hatten. Drei Tage war er mit ihnen gezogen. Eine Art Hippiekommune, die sich vom Weltuntergang nicht die Laune verderben lassen wollte. Sie hatten ihm sogar angeboten bei ihnen zu bleiben, aber das war nicht seine Welt.
Andererseits, was war jetzt ‚seine Welt’? Gab es noch irgendwo einen Platz für ihn? Andere Schreiber und Künstler? Ohne Internet war es echt schwer, das herauszufinden. Aber vielleicht hatte sich das ja jetzt sowieso erledigt. Wenigstens für einen längeren Zeitraum. Sein Fluchtversuch war voreilig und unbedacht gewesen. Jetzt ließ Ron ihn nicht mehr aus den Augen.
Wieso hatte er auch unbedingt diese Lagerhalle durchsuchen müssen und war nicht misstrauisch geworden, dass die Türen so sorgfältig verschlossen waren? Stattdessen musste er unbedingt durch ein Fenster hineinklettern und auf den erstbesten Knopf drücken.
Er seufzte lautlos und versuchte sich in eine etwas angenehmere Position zu bringen. Ron und der Fahrer des Lastwagens hatten ihn mitgenommen. Mehrere Stunden hatte er eingeklemmt zwischen den beiden Männern in der stickigen Fahrzeugkabine gesessen. Ron hatte erst anhalten lassen, als es schon dunkel war. Und dann hatte er irgendetwas mit dem Motor des Wagens angestellt, damit man ihn nicht anlassen konnte. Wenigstens hatte es etwas zu essen gegeben. Und nun lag er eingekeilt zwischen Ron und dem Fahrer im Wüstensand; die Hände an einen Pflock gefesselt, den sie über seinen Kopf in den Boden gerammt hatten. Das war wie in einer seiner Geschichten. Nur dass er nie den Ehrgeiz gehabt hatte, in einer davon mitzuspielen.
*
Alles war ruhig und dunkel. Der Strom wurde jeden Abend abgestellt um Energie zu sparen, das hatte Heinz ihm erklärt, als er kam um ihn in den Feierabend zu schicken. Nach zehn Stunden harter Arbeit in der Gesellschaft zweier Honks, denen man das Atmen schon als Leistung anrechnen musste. Immerhin hatte er ein anständiges Abendbrot bekommen. Brot, Wurst, etwas, das aussah wie Butter und dazu hatte es eine Art Kaffee aus Gerste gegeben.
Leise verließ Christian das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Im Flur war es finster. Er blieb einen Moment stehen, aber es gab keinen Lichtschein, nichts, an das sich seine Augen anpassen konnten. Also musste er sich blind vorantasten. Wenigstens gab es auf den Fluren keine Hindernisse. So weit er sich erinnerte wenigstens. Christian legte seine Hand an die Wand. Die Steine waren kalt.
Das erinnerte ihn daran, dass er außer seinem Handheld nichts mehr besaß. Keine Decke und keinen Proviant, noch nicht einmal eine Flasche Wasser. Er zögerte kurz und sah in der Dunkelheit dorthin zurück, wo die Zimmertür lag.
Wieso hatte er nicht daran gedacht, eine der Decken mitzunehmen? Oder sich etwas von seinem Abendessen aufzusparen? Er schüttelte den Gedanken ab und tastete sich entschlossen weiter an der Wand entlang. Es gab kein Zurück! Vielleicht konnte er auf dem Weg zur Mauer noch etwas organisieren. Irgendetwas das einer Decke nahe kam, würde ihm reichen. Wasser und etwas zu essen hatte er bisher immer gefunden oder gegen ein paar Zeilen Programmcode tauschen können. Jetzt musste er erst einmal hier heraus.
An wie vielen Türen hatte Heinz ihn vorbeigeführt? Wieder verharrte er einen Augenblick um zu überlegen. Die Tür zum Serverraum war auf der linken Seite, wenn man von der Treppe kam, und da hatte es drei Türen gegeben. Da war er sich sicher. Aber wie oft waren sie abgebogen? Das hier war kein einfacher Keller. Das war ein Labyrinth.
Langsam ging er weiter, während seine Fantasie ihm Bilder von Spinnenhorden vorgaukelte, die sich an der Wand abseilten. Er rechnete jeden Moment damit, in etwas Haariges zu fassen.
Zwei Abzweigungen später wurde es weiter vorn im Flur heller und er meinte die Silhouette einer Treppe zu sehen. Christian lief schneller. Ja, das war sie! Er hatte Glück gehabt. Mit der Hand faste er nach dem Geländer. Das vom Alter glatte Holz unter der Hand zu fühlen war beruhigend, nach dem Umherirren in der Dunkelheit. Jetzt nur noch hinauf und zur Stadtmauer.
Aber Vorsicht! Sein Fuß verharrte in der Luft. Treppenstufen konnten übel knarren. Nah am Rand der Wand trat er auf die erste Stufe. Einen Teil seines Gewichts trug dabei das Treppengeländer. Mühsam arbeitete er sich voran. Erst im zerstörten Lichthof des Rathauses atmete er auf.
Mondschein fiel durch die dunklen Metallrippen, zwischen denen einst Glas gewesen war. Das war gut. Dann sah er trotz der Dunkelheit wenigstens etwas. Im Moment zum Beispiel den Galgen auf dem zentralen Platz. Christian schauderte und zog die Schultern hoch. Schnell wandte er sich ab und umrundete das Rathaus. An der Hinrichtungsstätte wollte er lieber nicht vorbeigehen. Außerdem war es ohnehin besser, nicht geradewegs zum Stadttor zu marschieren. Das war sicher bewacht. Er musste möglichst weit vom Tor entfernt einen Weg über die Mauer finden. Zuversichtlich schritt er voran.
»He!«, hallte unvermittelt ein Ruf durch die Straße.
Christian erstarrte auf der Stelle. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Galt das ihm? Eine dunkle Gestalt löste sich aus einem der Hauseingänge und kam auf ihn zu. Christian machte auf dem Absatz kehrt und rannte los.
»Stehen bleiben!«, gellte es hinter ihm her.
Natürlich blieb er nicht stehen. Was für eine Strafe hatten sie hier wohl für einen Fluchtversuch? Wieder dachte er an den Galgen und rannte schneller. Hinter ihm schrillte eine Trillerpfeife. Christian hastete um die nächste Ecke. Den Verfolger musste er unbedingt abschütteln, bevor er zur Mauer konnte.
Überall um ihn herum begann es zu pfeifen. Ein richtiges Trillerpfeifenkonzert lärmte durch die Nacht. Schwer atmend blieb er stehen. Sie kesselten ihn ein. Das war auch nicht schwer. Jeder Flüchtling wollte zur Mauer, also bildeten sie einfach einen Ring und zogen ihn nach innen immer enger. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man ihn sehen würde.
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