Martin kramte fieberhaft in seinen rudimentären Kenntnissen erbrechtlicher Zusammenhänge. Er kam aber nicht weit. Schon wedelte Lore mit dem nächsten Umschlag, der mit „2“ beschriftet war. „Ich habe endlich alles geregelt und ein Testament errichtet. Es liegt beim Notar. Ich habe mit ihm besprochen, dass er meinen Kindern dieses Testament nach meinem Tod persönlich zur Kenntnis bringen soll. Sobald Du von der Testamentseröffnung erfährst, liest Du bitte den Brief, der in diesem Umschlag steckt. Auch ihn musst Du sehr sorgfältig verwahren.
Schau nicht so, ich habe meine Gründe. Und ich habe keine Freude, diesen etwas umständlichen Weg einzuschlagen. Natürlich hätte ich das alles auch dem Notar auftragen können. Aber ihn geht das nichts an. Reine Familiensache.“
Martin hatte den Eindruck, schon lange nicht mehr so verqueres Zeug gehört zu haben. Das war doch gerade der Job des Notars. Und Schweigen seine oberste Pflicht. Aber er sagte besser nichts. Wenn sie schon mal einen Gefallen von ihm erbat, dann war das eigentlich in Ordnung. Außerdem wirkte sie so entschlossen. Aber reichlich merkwürdig und ein bisschen verschroben hörte sich das schon an.
„Dieser dritte Umschlag betrifft den schmerzlichsten Teil der Angelegenheit.“
„Du meine Güte, was würde denn noch alles kommen“, dachte Martin, der anfing, sie für ein klein wenig verrückt zu halten.
„Ich hoffe sehr, dass er erst gar nicht benötigt wird. Im Umschlag „2“ steht die Anweisung, ob, wann und unter welchen Umständen Du diesen dritten Umschlag öffnen musst. Ich brauche nicht zu wiederholen, dass Du auch ihn ganz besonders und sicher verwahren musst. Es befindet sich ein weiteres Kuvert darin, mit einer Erklärung von mir, die, so der Herrgott es will, niemals gelesen werden muss. Du bist solcherlei Dinge kundig. Deswegen glaube ich, diese Dokumente in die richtigen Hände zu geben. Ich bin froh, dass wir das endlich erledigt haben. Und sieh zu, dass Du alles in Sicherheit bringst.
Ich schlage Dir die Zimtschnecken in Papier, Du hast ja gar nichts davon genommen.“
Sie war aufgestanden, mit der Schale in der Küche verschwunden und kurz darauf mit einem Päckchen Alufolie zurückgekommen. So weitschweifig sie bis dahin gewesen war, nun war die Veranstaltung ganz offensichtlich beendet. Martin hatte sich pflichtschuldig französisch verabschiedet, Küsschen rechts, Küsschen links – wer hatte eigentlich diese Nationalspezialität aus Frankreich hierher verschleppt? – und die Tür hinter sich zugezogen.
Frank sah Katja schon, noch bevor sie ihn erblicken konnte. Er hatte kurz abgewogen, ob er das Wochenende in Paris hätte stornieren sollen, so kurz nach Mutters Tod. Andererseits: Die Geschäfte gingen weiter, Vera würde das schon machen. Er hatte seiner Schwester dafür versprochen, das mit der Testamentseröffnung zu erledigen, wenn er Konrad endlich mal erreicht haben würde. Als Katja ihn endlich in der Menge der wartenden Abholer ausfindig gemacht hatte, winkte sie freudig. Er nickte nur. Sie kam durch die Absperrung, lief mit einem strahlenden Lächeln auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund.
„Ich hoffe, Du hattest einen angenehmen Flug?“
„Oh, wie schön Dich zu sehen! Paris, oh Paris. Es war eine so gute Idee, dass wir uns in Paris und nicht in Berlin treffen“, sagte sie.
Ihr Flugticket verbuchte er innerlich unter dem Konto Investitionskosten. Hauptsache, sie hatte die richtige CD in der Tasche.
„Nun mal langsam“, sagte er „noch sind wir nicht in Paris. Von Charles de Gaulle sind es noch gut zwanzig Kilometer bis zum Périphérique.“
„Oh, wie ich mich freue! Stell Dir vor, ich war noch nie in Paris, es wird phantastisch sein, oh, wie ich mich jetzt schon freue.“
Ihre Erscheinung und ihr Verhalten ließen nicht unbedingt den Schluss zu, dass man es bei ihr mit einer diplomierten Mathematikerin zu tun hatte. Ihre Oh-Manie war ihm schon bei früheren Treffen aufgestoßen. Einmal hatte er sich dabei ertappt, die ohs eines ganzen Tages zahlenmäßig zu erfassen, während sie sich gegenseitig in Stimmung gebracht hatten. So etwas war sonst gar nicht seine Art. Es war wahrscheinlich ihre Profession, die ihn zum Spiel mit Zahlen animierte. Ein sehr sehr lang gedehntes Oh hatte ihn aber dann doch aus dem Konzept gebracht. Er überlegte, ob er ihrer schon ein wenig überdrüssig wurde. Er entschied sich für „eigentlich nicht ganz“. Er fand die Mischung aus mathematischer Intelligenz und hochgradiger Naivität durchaus attraktiv und reizend. Und nutzbringend ja hoffentlich. Die Nummer mit den „ohs“ verbuchte er unter dem Konto Kollateralkosten.
Frank hatte Katja aus dem Organogramm der „Deutschen Emissionshandelsstelle“ in Berlin herausgepickt. Die Behörde mit dem sperrigen Namen verwaltete einen noch jungen Wirtschaftszweig, nämlich den Handel mit Klimaverschmutzungszertifikaten. Wortschöpfungen zum Abwinken. Aber das war ihm egal. Es ging um eine noch nicht lange etablierte Sache, vom Staat verwaltet, da hatte sein Spürsinn gleich Störanfälligkeit gewittert und somit das Potential für gute Geschäfte. Also war er eingestiegen. Als erstes hatte er eine geeignete Kontaktperson gebraucht. Vorzugsweise eine Frau.
Er hatte im Spätsommer letzten Jahres angefangen Katja zu beobachten, eine Weile ihre Gewohnheiten studiert und war ihr durch Berlin gefolgt, bis er beschlossen hatte, dass sie für seine Zwecke die Richtige sei. Er hatte sie schließlich in einem Café angesprochen und sie nach dem Weg zu einem Restaurant gefragt, das in Berlin-Mitte liegen müsse. Er hatte natürlich in Erfahrung gebracht, dass sie dort regelmäßig verkehrte. Sie hatte gestrahlt und geantwortet: „Oh, da haben Sie aber Glück, das Restaurant kenne ich gut. Ich kann es Ihnen nur empfehlen. Es liegt nahezu auf meinem Weg. Wenn Sie wünschen, führe ich Sie hin.“
Es war besser gelaufen, als Frank es sich hätte träumen lassen. Sie hatten sich gegenseitig vorgestellt. Er sich als Viktor, seinem Lieblingsnamen für strategische Zwecke. Sie waren schnell in einen verspielten Smalltalk verfallen. Als sie schließlich im „Bergmann’s“ ankamen, war es um die Mittagszeit und Frank fragte sie, ob er sie zum Dank für ihre Freundlichkeit einladen dürfe.
„Oh, das ist ja mal nett“, hatte sie nur gesagt und auch gar nicht gefragt, was er eigentlich ursprünglich in diesem Restaurant gewollt hatte. Da war Frank klar gewesen, dass er die richtige Person gefunden hatte. Er hatte ihr die Geschichte aufgetischt, dass er eine möblierte Wohnung in einer Seitenstraße der Schönhausener Allee angemietet habe, wo er, der sitzen gelassene Ehemann, mehr schlecht als recht hause. Es gebe noch eine Dienstwohnung in Liège in Belgien, da er dort für ein Unternehmen tätig sei, die sei aber noch schmuckloser. Katja nahm das alles lächelnd und mit einer angemessenen Portion weiblichen Mitgefühls auf.
Sie war eine kleine Person mit winzigen Füßen und üppigem Busen, Proportionen, die ihm schon ihrer Einzigartigkeit wegen sofort ins Auge gesprungen waren. Als Tochter einer russischen Mutter und eines Handelskaufmanns aus Quebec sprach sie fließend mehrere Sprachen, und Frank hatte die Vermutung, dass ihre vielen „ohs“ in der französischsprachigen Herkunft verwurzelt waren. Sie lebte allein, hatte keine Kinder zu versorgen und eine gleichermaßen leidenschaftliche wie unbegreifliche Begeisterung für Mathematik. Sie erzählte ihm von ihren mathematischen Abenteuern, wie sie sich ausdrückte. Am Abend oder an freien Wochenenden setze sie Annahmen auf und versuche, mit den Mitteln mathematischer Beweisführung zu berechnen, ob sie wahr oder falsch seien. Sie wollte auch Frank dafür begeistern und setzte an, ihm was von Axiomen einerseits, mathematischer Beweisführung andererseits nahezubringen. Da hatte er dankend abgewunken. Er hielt sie ob dieser Leidenschaft schon für sehr speziell. Aber sie war angenehm im Umgang, lustig und redselig. Sie trafen sich in unregelmäßigen Abständen, wenn Frank für seine Firma nach Berlin geschickt wurde, wie er ihr erzählte. Sie hatte glücklicherweise keinen Ehrgeiz, sie ihren Freunden vorzustellen oder ihm gesellschaftliche Verpflichtungen überzustülpen. Frank vermutete, dass sie ihn ganz für sich haben wollte, um die aus ihrer Sicht knappe Zeit, die sie miteinander hatten, nicht mit anderen teilen zu müssen.
Читать дальше