Edmund Linden
Die Rückseite des Mondes
Eine Liebesgeschichte
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Inhaltsverzeichnis
Titel Edmund Linden Die Rückseite des Mondes Eine Liebesgeschichte Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Seit Veronika geschieden war, und das war immerhin zwei Jahre und drei Monate her, hatte sie mit keinem Mann mehr geschlafen. Rechnete man noch die dreizehn Monate dazu, die sie davor schon mit Ausnahme eines missglückten Abenteuers enthaltsam gelebt hatte, kam man auf drei Jahre und vier Monate. Obwohl sie erst zweiunddreißig war, fühlte sie sich schon so alt, dass ihr die Vorstellung, mit einem Mann zu schlafen, Angst machte.
Was sie noch mehr ängstigte, waren die anderen Veränderungen, die sie an sich feststellen musste, seit die Affäre ihres Mannes mit ihrer Kollegin Jessica aufgeflogen war: Sie hatte jede Souveränität, auf die sie sich früher allerhand eingebildet hatte, verloren. In ihrem Unterricht am Heinrich-Heine- Gymnasium ging es noch trockener zu als in ihrem Unterleib. Hatte sie früher den Unterricht, besonders in der Oberstufe, mit lockerer Hand geführt, war sie nun mehr und mehr zu einer Zicke geworden, die jede Fehlleistung und jeden Scherz der Schüler als Beleidigung ihrer Person wertete. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal herzlich gelacht hatte.
Ausgehen mochte sie überhaupt nicht mehr. Sie fürchtete, in den Lokalen, die sie früher mit Martin, ihrem Mann, besucht hatte, ihn selbst oder zumindest gemeinsame Freunde aus früherer Zeit zu treffen. Und andere Lokale aufzusuchen, kam erst recht nicht infrage. Was sollte sie da auch? Sollte sie da vielleicht als allein stehende Frau auftauchen, sich volltrinken und von Männern anquatschen lassen, um ihnen dann mit besoffenem Kopf und lallend ihre Geschichte vom unglücklichen Ende einer großen Liebe zu erzählen? Da blieb sie doch lieber zu Hause, wo ihr die Decke auf den Kopf fiel und die zu korrigierenden Hefte sich auf dem Schreibtisch stapelten und nie weniger wurden. Ja, früher, da hatte sie die Korrekturen leichthin erledigt und die Arbeiten ihren Schülern immer schnell zurückgegeben, obwohl sie wenig Zeit zum Korrigieren hatte, weil sie mit Martin viel ausging, Freunde besuchte und empfing und sich dreimal in der Woche im Fitnessstudio abstrampelte. Jetzt, wo sie zu Hause saß und viel Zeit hatte, wurde ihr schlecht, wenn sie den Stapel Hefte vor sich liegen sah.
Wie sie die Zeit totschlug, wusste sie selbst nicht so genau. Sie hätte ja Zeit gehabt, sich all die Filme anzusehen, die sie immer schon mal hatte sehen wollen und die sie nicht hatte sehen können, weil sie und Martin dauernd etwas anderes vorhatten. Früher hatten sie sich manchmal einen Film in der Videothek ausgeliehen, um ihn sich gemeinsam anzusehen, oder hatten den Fernseher eingeschaltet. Mit Mühe zwang sie sich, wenigstens die Tagesschau um acht Uhr anzusehen, um der möglichen Blamage zu entgehen, dass man sie auf die Ermordung des amerikanischen Präsidenten oder des Bundeskanzlers ansprechen würde und sie dann zugeben müsste, dass sie in diesem Moment zum ersten Mal etwas davon höre.
Sie hätte auch die Bücher lesen können, die man ihr bei verschiedenen Anlässen mit den besten Empfehlungen geschenkt hatte oder die sie sich selbst gekauft hatte, weil man sie angeblich unbedingt gelesen haben musste. Sie schaffte aber selten mehr als drei Seiten. Dann verlor sie das Interesse und ihre Gedanken schweiften ab.
Stattdessen warf sie sich nach der Schule aufs Sofa und schaute sich Gerichtsshows an, einerseits weil sie im Gegensatz zu früher nach dem Unterricht völlig erschöpft war, andererseits weil es ihr guttat, dass die Übeltäter nach einer Stunde überführt waren und bestraft wurden. Dabei war ihr durchaus bewusst, dass diese Shows, auch wenn daran echte Richter und Anwälte beteiligt waren, völlig unrealistisch waren. Nicht nur, dass alle Fälle einschließlich Mord in vierzig Minuten – man musste nämlich noch die Werbepausen abziehen – erledigt waren, es war auch völlig realitätsfern, dass das Gericht die Arbeit der Polizei und Staatsanwaltschaft erledigen und den Sachverhalt ermitteln musste, weil am Anfang der Verhandlung immer unklar war, ob der Angeklagte wirklich schuldig war. Um sich selbst bewusst zu machen, was für einen Schwachsinn sie sich da anschaute, machte sie sich die Prinzipien dieser Unterhaltungsshows klar: In der Hälfte der Fälle war die Anklage falsch, der wahre Täter war dann ein zunächst unverdächtiger Zeuge. Zu erraten war das selten, weil die verwegensten Konstruktionen einen völlig neuern Sachverhalt ergaben. Es wurde immer gelogen, mit der Folge, dass nach Erledigung des anliegenden Falles drei neue Klagen zu erheben waren. Der Richter bzw. die Richterin ließen sich aber nie täuschen. Ausländer – mit Ausnahme von Schlepperbanden – waren aber immer unschuldig, ebenso naive Mädchen. Dagegen wurden arrogante Typen, die großkotzig auftraten, immer überführt und verknackt. Besonders häufig waren Jugendliche, besonders hübsche Mädchen, angeklagt oder als Zeuginnen geladen, um die Shows optisch aufzuwerten und so weiter. Noch schwachsinniger waren die Anwaltsserien, in denen die Anwälte nicht in ihren Büros saßen, sondern erfolgreich die Ermittlungsarbeit der Polizei machten. Es war offenkundig, dass diese Shows für Rentner und Arbeitslose gedacht waren, die ihren Glauben an eine heile Welt nicht verlieren sollten. Wer hatte auch sonst schon Zeit und Lust, sich am frühen Nachmittag vor die Glotze zu legen.
Zu ihrer eigenen Bestrafung schaltete Veronika auch nicht bei den immer gleichen Werbespots ab, obwohl es sie schmerzte, wenn diese noch schwachsinniger waren als die Show, die sie unterbrachen. Da behauptete einer, und das dreimal in einer Sendung, wenn er ein Wärmepflaster auflege, lasse die Verspannung nicht nur nach, sondern komme auch nicht wieder, und eine Oma fragte in einem Medikamentenspot ihren bescheuert aussehenden Mann auf der Fahrt zur Enkelin, ob er auch an alles gedacht habe, ohne dass dieser zurückfragte, warum sie sich nicht selbst darum gekümmert habe, wo sie ihn doch für vergesslich hielt. Besonders nervte sie ein Grammatikfehler im Spot einer Bank, die den Zuschauer direkt ansprach mit dem Satz, weitere Kredite seiner Bank seien abgelehnt worden, als bräuchte die Bank selbst Kredite. Aber Veronika fand, dass sie diesen Schmerz verdient hatte, weil sie nicht die Kraft aufbrachte, sich zur Korrektur der Hefte auf dem Schreibtisch aufzuraffen. Diese Shows lieferten, was sie brauchte: Ablenkung und das Gefühl, dass es doch noch Gerechtigkeit gibt.
Sie hatte keine Lust, mit Freunden und Freundinnen auszugehen oder sich von ihnen einladen zu lassen. Zwar hatte man sie, als Martins Affäre mit Jessica aufflog, demonstrativ eingeladen und ungeheuchelt Solidarität gezeigt, und auch jetzt wurde sie immer noch, wenn auch seltener, gefragt, ob sie nicht einmal vorbeikommen oder ins Kino mitgehen wolle. Sie lehnte aber fast immer ab. Sie wollte nicht mehr über Martins unverständliche Untreue reden und Anderes interessierte sie nicht. Politische Diskussionen, an denen sie sich früher engagiert beteiligt hatte, kamen ihr so abgehoben vor, als ginge es um Probleme auf einem anderen Stern. Sie wollte auch deshalb niemand besuchen, weil von ihr unvermeidlich so viel Traurigkeit ausging, dass sie das Glück der anderen trübte.
Sie hätte ihre Eltern, die unverbrüchlich zu ihr standen und bei denen sie oft das Wochenende verbracht hatte, besuchen können. Aber auch dazu konnte sie sich nicht aufraffen. Es half ja auch nicht. Ihre Eltern litten mit ihr. Und obwohl sie wusste, dass ihre Eltern das auch taten, wenn sie nicht anwesend war, wollte sie deren Mitleiden wenigstens nicht sehen. Sie hoffte, ihre Eltern würden wenigstens ab und zu mal auch an erfreulichere Dinge denken, wenn sie ihre Tochter nicht vor Augen hätten.
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