Nach der Tutandenfahrt, die harmonisch verlaufen war - sogar am Discoabend waren alle Schüler wieder pünktlich im Jugendhotel – sprachen Veronika und Martin öfter miteinander und gingen auch schon mal nach der Schule einen Kaffee trinken. Als Frau Niederbaum, die mit Martin die Theater-AG an der Schule leitete, wegen Schwangerschaft ausfiel, fragte Martin Veronika, ob sie nicht Lust habe, an Frau Niederbaums Stelle zu treten. Veronika, die während ihrer Schulzeit selbst Theater gespielt hatte, sagte sofort zu. Sie hatte schon gehört, dass die Theater-AG unter Martins Leitung ein beachtliches Niveau habe und regelmäßig auf vier ausverkaufte Vorstellungen komme. Am liebsten wäre sie Martin gleich um den Hals gefallen, weil sie sich schon als Schülerin vorgenommen hatte, es einmal besser zu machen als ihre Theaterleiterin. Sie beherrschte sich aber und sagte nur: „Gerne, wenn du meinst, dass ich dir dabei helfen kann.“
Das Stück, das zur Aufführung anstand, hieß „Schöne neue Welt“. Huxleys Roman sollte aber in die Gegenwart versetzt werden. Man wollte nur das Grundthema der kritischen Betrachtung der neuen Welt durch eine außen stehende Person übernehmen. Es gab keinen fertigen Text, sondern nur ein Konzept. Veronika fand das sehr mutig. An ihrer Schule hatte man nur die üblichen fertigen Theaterstücke gespielt: Dürrenmatts Physiker und Romulus der Große, Frischs Andorra und Brechts kaukasischen Kreidekreis. Obwohl die Gruppe schon einige Monate an dem Thema gearbeitet hatte, stand kaum eine Szene. Immerhin hatte man sich auf die Figur des Fremdlings geeinigt: Er sollte durch ein Mädchen dargestellt werden, das bei den Amish in Pensylvania aufgewachsen war und nun bei einer Tante lebte, nachdem seine Eltern früh verstorben waren. In den Proben wurden die Schüler aufgefordert, selbst Szenen zu entwickeln, die für das Leben heutiger Jugendlicher kennzeichnend seien und einem Amish-Mädchen seltsam vorkommen müssten. Veronika staunte darüber, wie kritisch die Schüler ihre eigene Lebensweise betrachteten: den Körperkult, die sexuelle Freizügigkeit und die Unbeständigkeit der Beziehungen, die Konsumorientiertheit und die fehlende religiöse Orientierung. Veronika sah zunächst nur zu, brachte dann aber auch selbst Ideen ein. Sie übernahm es auch, zu Hause einige Szenen schriftlich festzuhalten, die man als gelungen ansah. Huxleys noch recht mechanistische Vorstellungen von der künstlichen Zeugung im Reagenzglas wurden fallen gelassen, das Soma durch moderne Drogen ersetzt und die Schlafschule durch Fernsehreklame. Die Aufführungen waren ein großer Erfolg. Beim Pizza-Essen nach der Premiere nahm Martin Veronika vor allen Mitspielern in die Arme und gab ihr einen Kuss.
Nur wenige Tage nach den Aufführungen schliefen sie zum ersten Mal miteinander. Martin hatte Veronika zu einem Kaffee eingeladen. Man unterhielt sich über verschiedene Schulprobleme, bis Veronika Martin ins Wort fiel: „Hast du auch ein Schlafzimmer?“ Er hatte eins. Veronika hoffte nur, dass Martin sich nicht zu viel Mühe geben und ihr alle seine Fertigkeiten vorführen würde, die er sich bei seinen Liebschaften sicherlich erworben hatte. Er tat es nicht. Nach Peter hatte er nicht gefragt. Sie war ihm dankbar dafür. Sie wollte sich nicht rechtfertigen. Sie hatte weder Lust zu erklären, dass ihre Liebe zu Peter längst gestorben sei, noch, dass das Schäferstündchen mit ihm, Martin, keine Bedeutung hätte.
In den nächsten Wochen schliefen sie oft miteinander. Meist kochte Martin zuerst etwas für sie beide. Er kochte gerne, was Veronika außerordentlich gefiel. Bald gewöhnte sie sich an, ihre Schulsachen zu erledigen, während er am Herd stand, um nicht am Abend so lange arbeiten zu müssen. Sie war immer rechtzeitig zu Hause. Peter kam meist spät, und wenn er einmal früher da war, hatte sie eben noch etwas in der Schule zu erledigen gehabt. Peter kam in seiner Selbstgefälligkeit auch gar nicht auf die Idee, dass sie ihn betrügen könnte. Sie schlief auch noch mit ihm, teils aus schlechtem Gewissen, teils aus Gewohnheit und teils, um ihre Affäre zu verbergen. Sie hatten getrennte Schlafzimmer; deshalb ließ sich die Sache auch meist vermeiden. Beide hatten ja einen anstrengenden Tag im Beruf hinter sich.
Der Name Peter fiel in diesen Wochen, in denen sie ihre Nachmittage bei Martin verbrachte, kein einziges Mal. Martin machte Veronika aber immer öfter den Vorschlag, zu ihm zu ziehen. Er wollte mit ihr nicht nur den Nachmittag, sondern auch die Nacht und vor allem die Wochenenden verbringen,
„Dann ist es aber mit deiner Freiheit vorbei“, sagte Veronika, „und es gibt doch noch so viele schöne Frauen, die du noch nicht in deinem Bett hattest.“
„Ich brauche keine Freiheit und keine anderen Frauen, wenn du bei mir bist“, antwortete Martin und gab ihr einen Kuss.
„Das ist eine ordentliche Liebeserklärung“, meinte Veronika, „dass du dich da nur ja nicht falsch einschätzt. Außerdem ist die Wohnung zu klein.“
„Wir suchen uns eine passende, wenn du zu mir ziehst.“
Zweigleisigkeit passte nicht zu Veronikas Selbstbild von Vera, der Wahren. Sie wollte aber die Affäre nicht beenden; deshalb suchte sie Rechtfertigungen und stellte Vergleiche an, bei denen Peter durchweg schlechter abschnitt mit Ausnahme der Einkünfte: Peter verdiente entschieden mehr als Martin; aber Geld spielte für Veronika keine Rolle. Ihre Eltern waren wohlhabend und sie selbst verdiente genug, um ordentlich leben zu können. Martin war der bessere Liebhaber und so etwas wie ein Idealist, jedenfalls ein Mann, der etwas darstellte, der etwas konnte und Ziele verfolgte, die sie auch gut fand. Dass der Sex mit Peter nach zehn Jahren ihr nicht mehr so viel bedeutete, konnte sie ihm nicht vorwerfen. Das war eine natürliche Entwicklung, die man zu akzeptieren hatte; aber Peter war auch vor zehn oder fünf Jahren kein so guter Liebhaber gewesen wie Martin. Sicherlich war sie mal in ihn verliebt gewesen, besonders am Anfang, als sie in der Elf und er in der Zwölf war. Damals war Peter so etwas wie ein Rebell gewesen, ein Junge mit wilder Mähne, der die Schule nicht ernst nahm und wilde Partys in der Garage seines Elternhauses veranstaltete. Easy Rider nannte er sich; für die brave Veronika verströmte er den Hauch von Wildem Westen, wenn sie auf dem Sozius seines Motorrads sitzend sich an ihn klammerte und er mit ihr durch die Landschaft brauste oder einfach zur Schule fuhr. Danach hatten sie die ganze Studentenzeit zusammen verbracht und viele Urlaube, mit und ohne ihre Familien.
Die Familien waren auch zu bedenken: Peter war in Veronikas Familie als Schwiegersohn gern gesehen und sie noch mehr als Schwiegertochter bei seinen Eltern. Die Eltern wären sicher enttäuscht, sowohl ihre als auch seine, wenn sie ihnen eröffnen würde, dass sie sich von Peter getrennt habe. Aber es ging um ihr, Veronikas, Leben, und die Eltern würden es verkraften. Für die Fragen nach den Gründen hatte sie schon eine Ausrede parat: Wir haben uns auseinandergelebt. Das hatten sie in der Tat. Peter war bequem geworden, körperlich und auch geistig. Er hatte sich ein Bäuchlein zugelegt und seine wilde Mähne war einem Kurzhaarschnitt gewichen, der die beginnende Glatze unauffällig machen sollte. Was das Geistige anging, war Peter eigentlich schon immer bequem gewesen. Wenn sie es in der Rückschau recht bedachte, war Peter eigentlich kein rebellischer, sondern nur ein fauler Schüler gewesen. Sein Studium hatte er auch nur mit vielen Repetitorien und dann auch nur mit Mühe geschafft. Seine Anstellung in einer angesehenen Kanzlei verdankte er nur den guten Verbindungen seines Vaters. Ihre Unterhaltungen mit Peter beschränkten sich auf Alltägliches und seine Berichte aus der Kanzlei, für Dinge, die darüber hinausgingen, und für ihre Anliegen hatte er keinen Sinn. Peter war ein Spießer. Das war ihr seit langem klar, der Vergleich mit Martin machte es aber augenfällig. Peter hatte auch darauf bestanden, dass sie im teuren Klein- Flottbeck lebten, damit sie eine repräsentative Adresse im Grünen hätten, während sie viel lieber eine Wohnung in Ottensen genommen hätte, wo buntes Leben herrschte und von wo aus sie es viel näher zur Schule gehabt hätte.
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