„Aber Vera“, versuchte Martin es erneut, „dieses Haus, ein Schloss nahezu, meine Jugend, unsere Jugend. Könnten wir Deine Brüder nicht auszahlen?“
„Wir?“, fragte Vera, „von wem sprichst Du?“
„Na, von Dir und mir“, sagte Martin.
„Es gibt kein solches „Wir‘. Nicht seit dreißig Jahren. Außerdem glaube ich nicht, dass Du die Preisvorstellungen meiner Brüder befriedigen könntest.“
„Wir sollten mit ihnen reden“, sagte Martin. Er dachte auf einmal an den Umschlag, der ungeöffnet in einem Bankschließfach lagerte.
„Eine durch und durch sinnlose Diskussion“, sagte Vera. „Wenn ich es allein zu entscheiden hätte, ich würde Dir das Haus schenken. Dir!“, setzte sie nach.
„He Vera, keine Spitze gegen Ella. Ihr habt Euch doch prächtig amüsiert gestern Abend.“
„Jaja“, sagte Vera. „Wann hättest Du denn Zeit?“, schwenkte sie zurück zu ihrem Anliegen.
„Ich kann direkt morgen kommen.“
„Sagen wir um zehn?“
„Geht klar. Morgen um zehn.“ Er brauchte Zeit. Er musste sie noch irgendwie rumkriegen. Es widerstrebte ihm ganz und gar, das Haus in Veldern aus der Hand zu geben. Es war natürlich gar nicht seins, was maß er sich an, schoss es ihm durch den Kopf. Andererseits – auch er gehörte doch zur Familie. Darauf hatte Tante Lore immer großen Wert gelegt.
Sie hat beschlossen Zahlen zusammenzuzählen. Vielleicht bleiben sie dann bei ihr. 1 und 1 gleich 2 plus 2 gleich 4 plus 3 gleich 7. Weiter kommt sie nicht. Sie kann nicht so gut rechnen und es tut weh. Sie kann nicht an die Zahlen denken.
Sie liegt in einem Raumschiff voller Zahlen. Die Zahlen fliegen durch die Kapsel. Sie ist angebunden. Man hat ihr gesagt, dass sie auf die Kapsel aufpassen soll. Sie weiß nicht warum. Sie kann sich nicht festhalten an den Zahlen.
Sie will nur schlafen. Du bist gut im Kopfrechnen, haben sie ihr gesagt. Sie würde das gerne abgeben, alle Zahlen und alles, was damit zu tun hat. Wenn sie einfach nur schlafen darf dafür. Mama sagt, dass alles gut ist und dass sie eine gute Familie sind. Du bist gut, hat er gesagt…plus 4 gleich 11 plus 5 gleich 16. Geliebtes Wesen, alles ist gut.
Eleonore Westerholt war die Tochter einer wohlhabenden westfälischen Familie gewesen. Mehrere Hundert Hektar Land hatten zum Besitz der Westerholts gehört. Selbst als die Ländereien längst auf die sechs Kinder aufgeteilt worden waren, hatten Eleonore und ihre Geschwister nach dem Tod ihrer Eltern reich geerbt. Hierüber wurde aber nicht gesprochen. Es wurde überhaupt wenig gesprochen. Jedenfalls nie über Persönliches, Befindlichkeiten, Nöte, Reichtum oder Glück und Unglück. Und wenn es doch einmal vorkam, dann war es allenfalls Martin, dem Tante Lore sich ein wenig öffnete.
Sie hatte Martin vom ersten Moment an in ihr Herz geschlossen, direkt als sie ihn in ihr Haus aufgenommen hatte. Das hatte er deutlich gespürt. Er erinnerte sich, dass er eigentlich der Einzige in der Familie und aus ihrer Umgebung war, dem sie sich überhaupt ein wenig anvertraut hatte.
„In unserer Familie hat es nie Streitereien gegeben“, hatte sie an einem Nachmittag im Sommer vor drei oder vier Jahren behauptet, als Martin ihr einen Besuch abgestattet hatte. Sie hatte ihn gebeten zu kommen, was durchaus häufiger vorkam. Diesmal schien es ihr aber um etwas Konkretes zu gehen. So war es Martin vorgekommen, und sein Eindruck hatte sich im Verlauf des Nachmittags bestätigt. Er hatte noch immer einen Schlüssel, doch hatte er höflich geklingelt. Sie öffnete und war wie immer bei seinen Besuchen aufrichtig erfreut, ihn zu sehen. Es duftete phantastisch, nach Jugend, nach zu Hause. Sie führte ihn zum großen Wohnraum, an den sich die Küche anschloss, aus der die Erinnerung strömte.
„Was hast Du mit mir vor? Du hast doch nicht etwa…?“
„Zimtschnecken“, bestätigte sie, „frisch aus dem Ofen. Ich habe tatsächlich etwas mit Dir zu besprechen. Setz Dich! Damit Du meine Beweggründe verstehst, muss ich ein wenig ausholen. Ich hoffe, dass Du ein wenig Zeit für mich hast.“
Martin war direkt aus dem Büro gekommen und hatte keine Eile.
Sie setzte an, ihm ihre Vergangenheit auszubreiten, ihm von ihrer Familie zu erzählen. Das tat sie sonst nie. Ihr eigener Vater habe ihrer Mutter stets Respekt und Liebe entgegengebracht, leitete sie das Ganze ein.
„Er hat in die Familie eingeheiratet, eine wirklich lohnenswerte Partie für ihn, das muss man schon zugeben. Er hätte das aber niemals ausgenutzt. Vater war ein grundanständiger Mann mit tadellosem Benehmen. Eine Respektsperson und liebevoll zugleich. Den Kindern war er stets ein guter Vater.“
Im Anschluss daran war Tante Lore etwas freimütiger geworden:
„Bis zu meinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr habe ich nur die Harmonie in unserer Familie gekannt. Da war es doch ganz selbstverständlich, dass ich glaubte, etwas Anderes gebe es nicht. Völlig naiv und unbedarft war ich der festen Überzeugung, das würde für immer und überall so weitergehen.
Und es hat wahrlich nicht lange auf sich warten lassen, dass ich vom ganzen Gegenteil getroffen worden bin. Kurt, mein Ehemann, den Du nicht mehr kennengelernt hast, hatte mich umschwärmt, dass es eine Wonne war. Das hatte ich in solchem Ausmaß noch nicht erlebt. Natürlich hatte man schon mal den einen oder anderen angeschaut, aber bis zu unserem Hof draußen kamen nicht viele. Kurt schon. Auch meine Mutter hatte er mit seinem umwerfenden Charme bald für sich eingenommen. Die Heirat ließ nicht lange auf sich warten. Sie war der größte Fehler meines Lebens. Als Ehemann hatte Kurt sich einen legitimen Platz im Reichtum der Familie Westerholt verschafft. Er nahm sogar den Namen der Familie an. Ich schwebte über allen Wolken.“ Sie lächelte bitter.
„Kurt hatte sich eine kleine Existenz als Handelsvertreter für eine Firma aufgebaut, die Hausmaschinen herstellte. In den fünfziger Jahren konnte man damit ganz gut Geschäfte machen. Ich als frisch gebackene Ehefrau war schon bald in froher Erwartung und natürlich überglücklich. Doch es währte nicht lange, das ungetrübte Paradies. Schon bald ahnte ich den Irrtum, dem ich erlegen war. Dieser Mann war durch und durch böse und ganz und gar einzig auf das Vermögen unserer Familie aus.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich war unerfahren und lebte im Elfenbeinturm einer heilen Welt. Ich war verzückt von den ersten Erfahrungen in der Liebe und glücklich, dass Kurt auch bei Mutter wohlgesonnen war. Nur mein Vater war von Anfang an skeptisch, wie Mutter mir erst sehr viel später sagte. Doch er hat sich mir gegenüber nie etwas anmerken lassen und sich aus diesen Fragen herausgehalten.
Unsere Eltern hatten allen ihren Kindern zur Hochzeit eine großzügige Ausstattung geschenkt, so auch mir. Alexander und Robert, meine beiden Brüder, die nicht geheiratet haben, bekamen sie an ihrem jeweils dreißigsten Geburtstag.
Das Gebiet, in dem mein Ehemann Kurt verkaufen durfte, beschränkte sich auf den Niederrhein. Nach einer Bleibe mussten wir nicht lange suchen. Ich verliebte mich auf der Stelle in die Villa hier am Rhein. Wir bekamen den Zuschlag und richteten uns häuslich ein. Geldsorgen gab es nicht, wir konnten Haus und Grund fast aus der Tasche bezahlen. Der Vorbesitzer war verstorben. Seine Kinder hatten kein Interesse an dem Haus, das sie nur schnell loswerden wollten. Die Preise waren natürlich mit denen von heute in nichts zu vergleichen. Außerdem war es zu der Zeit an der Mode, selbst zu bauen, vorzugsweise einen Bungalow, wie sie zu der Zeit allerorts aus dem Boden schossen. Demgegenüber war so ein Haus im Jugendstil nicht gefragt und deshalb geradezu günstig.
Mein Bauch begann sich zu wölben und nahm schon bald rasant an Umfang zu. Ich war empfindlich und verletzlich. Die ersten Berührungen der Liebe hatte ich mit Neugier und Verlangen empfangen, und die Grobheit, die von Anfang an mit dabei war, als normal hingenommen. Aber bald war es so hart, dass ich mir einfach nichts mehr vormachen konnte. Und versuchte es doch. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben. Kurt blieb inzwischen immer öfter weg, auch nachts. Erst machte ich mir Gedanken, waren wir doch eigens seinetwegen in diese Gegend gekommen, damit sich die Fahrtwege verkürzten. Dass irgendwelche Abenteuer der Grund sein könnten, ist mir gar nicht in den Sinn gekommen. Manchmal kam er auch sehr spät in der Nacht noch zurück. Egal ob ich schon eingeschlafen war mit unserer gemeinsamen Frucht im Leib, oder ob ich im Dunkeln noch wach lag: Mit grober Kraft machte er sich über mich her, und wenn er Befriedigung gefunden hatte, lag ich einsam in den verschwitzten Laken und weinte still in meinem Unglück.“
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