Bei Tante Lore war es nicht nur das Entsetzen über die Zustände bei ihm zu Hause gewesen, dass sie sich so spontan und ohne ihn zu kennen aufgenommen hatte. Sie war glücklich gewesen, dass ihre elfjährige Tochter Vera nun endlich einen Weggefährten im fast gleichen Alter im Hause hatte.
Das änderte nichts daran, dass Martin Tag um Tag und Nacht um Nacht fürchterliche Momente durchlebt hatte. Sie hatten ihm gleich nach seiner Ankunft ein eigenes Zimmer eingerichtet. Das war ihm gar nicht recht, eigentlich sogar ganz und gar ungeheuer gewesen. Er war fremd und fühlte sich verlassen, ein Zimmer nur für ihn versprach nur noch mehr Einsamkeit. Aber so war das einfach im Hause Westerholt. Es gab mehr Platz als genug - für jeden einen eigenen Raum, für Gäste noch zwei weitere, einen Wäsche – und einen Wirtschaftsraum, Kellerräume, ein ausgebautes Dach. Es war ein großes, ein riesiges Haus. Martin hatte in der ersten Zeit nach Gesellschaft gesucht, er brauchte Ablenkung von seinen schweren dunklen Gedanken. Nachts hatte er verloren im kalten Bett gelegen, den Dämonen ausgeliefert, die seine tote Mutter entstellten und in Schatten auf der Wand einen Teufelstanz vollführten, der vom fahlen Licht der Nacht und den windbewegten Bäumen angestachelt wurde. Das waren furchtbare Nächte, allein und elternlos, entsetzlich bekümmert und voll unbestimmter Angst.
Und dann hatte es eines Nachts dieses denkwürdige Ereignis gegeben: An einem Abend im November tauchte aus dem Nichts ein Wesen auf. Lautlos fast, und doch real. Der Mond hatte an Größe zugenommen und warf mit weißer Kraft Licht und Schatten auf den hellen Körper, der vor Martins Bett erschien. Martin hatte sich erschreckt, ganz fürchterlich, und erst geglaubt, er werde Opfer seiner nächtlich kruden Phantasien. Wie hätte er Vera auch sofort erkennen können? Splitternackt war sie, ihr Körper hatte das Stadium der Kindheit bereits verlassen und den Weg zu einer Weiblichkeit aufgenommen, die Verlockung und Reiz versprochen hatte. Das hatte selbst Martin wahrgenommen. Er hatte seine Mutter manchmal nackt gesehen, unter der Dusche, sie hatte gesungen und ihn angestrahlt, wenn er ins Bad gekommen war. Doch ein Mädchen, noch jünger als er selbst. Und so schön.
Verdammt, verdammt. Er erinnerte sich, dass er genau das dachte: Verdammt, verdammt. Leider war das auch alles, was er dachte. Was er denken konnte. Als Vera so vor seinem Bett gestanden hatte, völlig regungslos, als warte sie als nächstes auf eine Reaktion von ihm, hatte er nicht die geringste Ahnung gehabt, was er nun zu machen hatte. Seine Erektion jedenfalls war enorm gewesen. Wahrscheinlich war er auch errötet. Jedenfalls hatte es sich so angefühlt. Immerhin dies hatte das farbenblinde Mondlicht wohl nicht verraten können. Vera hingegen schien ohne Scheu, ohne Scham zu sein.
„Was, was nur, was war jetzt zu tun?“ hatte es in seinem Kopf gerufen, aber er hatte beim allerbesten Willen, beim lieben Herrgott noch eins, nein, er hatte absolut keinen blassen Schimmer gehabt.
„Hallo Vera, Du bist aber noch ganz schön spät wach“ oder so etwas in der Art war ihm heraus gestottert. Sie hatte ihn so komisch angestarrt. Dann hatte er sich umgedreht und sofort tief schlafend gestellt. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte er sogar ein bisschen getan, als schnarche er.
Am nächsten Tag hatten sie kein einziges Wort darüber verloren. Martin hatte in den folgenden Tagen versucht, Vera so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Einige Nächte später wiederholte sich die Situation, identisch nahezu. Das lautlose Auftauchen, Erschrecken seinerseits, die heftige Erektion, ein hilfloses Gebrabbel, umdrehen, Schluss. Beide Male hatte er es erst unendliche Minuten später gewagt, sich wie im Schlafe umzudrehen und leiser zu atmen, um schließlich blinzelnd festzustellen, dass sie genauso unscheinbar wie sie gekommen auch verschwunden war.
Danach geschah das nie wieder. Martin hatte diese Vorfälle zu vergessen versucht und sich bemüht, zu seiner Unbefangenheit zurückzufinden. Tatsächlich aber brannten sich diese Begebenheiten von damals, als er zwölf Jahre alt gewesen war, fest in ihn ein. Vera hatte er nie darauf ansprechen wollen, sie umgekehrt tat es auch nicht. Sie hatte das bestimmt vergessen und in ihm mit Sicherheit nichts als einen dummen, unerfahrenen Jungen gesehen. Und das hätte es ja wohl ganz genau getroffen.
Als Ella die Tür aufschloss und ins Haus trat, konnte Martin ihre beschwingte Laune förmlich spüren.
„Wo seid Ihr noch so lang gewesen?“, fragte er wie beiläufig, um nicht zu neugierig zu klingen, als sie endlich hoch ins Schlafzimmer kam.
„Hier und da“, sagte sie unbestimmt.
„Hattet Ihr Euch denn was zu erzählen, nach all der langen Zeit?“
„Ach, es ging um die Jobs, was wir grad machen, woran wir arbeiten, über die Welt an sich, ihre Mutter und natürlich über Kerle. Über ihre Brüder. Über Dich. Du, Du bist doch schon Gesprächsstoff genug. Ein netter Mann, Anwalt des Staates, außer Dienst, hilfsbereit, Gartenfreund, ein braver Kerl.“ Sie lachte und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. War wohl etwas angeschickert.
Trotzdem fragte er ungläubig: „Über mich habt Ihr Euch unterhalten? Dafür hörst Du Dich viel zu vergnügt an.“
Ella lachte wieder und schoss ihre Schuhe ins Eck.
„Weißt Du, Dein Beinaheschwesterchen ist gar nicht so verkehrt. Sie scheint inzwischen eingesehen zu haben, dass eine gestandene Frau die Finger lassen sollte von beliebigen Idioten, ständig wechselnden dazu. Jetzt lebt sie allein und scheint auch klar zu kommen. Es war jedenfalls schön, mal wieder einen Abend mit ihr auszugehen. Auch wenn es ein seltsamer Anlass ist, an so einem Tag alte Freundschaften zu beleben. Aber vielleicht steckt noch mehr drin. Gute Nacht, kleiner Martin!“ Sie drehte sich um und war auf der Stelle eingeschlafen.
Was sollte das denn. „Kleiner Martin.“ Sie wusste doch, dass ihn das früher genervt hatte, wenn Frank ihn so genannt hatte. Martin verspürte einen Stich. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Seit Jahren wünschte er, dass sich die beiden Frauen wieder näher kämen. Dahinter steckten ausschließlich eigennützige Motive. Er hatte nie mehr unbefangen mit Vera sein können. Immer stand Ellas harsches Urteil zwischen ihnen. Vielleicht würde sich das jetzt mal ändern. Wenn aber der Inhalt ihrer Treffen darin bestand, sich über ihn herzumachen, fand er das gar nicht lustig.
Und sie hatten über ihre Jobs gesprochen? Seit Wochen versuchte er Ella zu entlocken, an welcher Geschichte sie dran war. Entgegen ihrem sonstigen Mitteilungsbedürfnis war sie neuerdings völlig zugeknöpft.
Er seufzte: „Abwarten bis morgen“, sagte er sich. Er strich Ella über den Kopf und deckte ihre frei liegende Schulter behutsam zu.
In dieser Nacht wurde er von den Dämonen des Feuers heimgesucht und durch die Träume gejagt wie schon lange nicht mehr.
Am nächsten Morgen riss ihn das Telefon aus dem Schlaf.
„Gehst Du dran?“, rief Ella aus ihrem Arbeitszimmer. Es schien schon später zu sein. Seine Laken waren vollkommen verschwitzt. „Verfluchte Träume“, schimpfte er.
Vera war es. Sie kam gleich zur Sache. „Würdest Du mir helfen, das Haus leer zu räumen, Martin? Bevor ich die Profis ins Haus lasse und am Ende der Entrümpelungsdienst kommt, sollten wir vielleicht ein wenig vorsortieren.“
„Natürlich helfe ich Dir“, sagte Martin. „Was ist mit Deinen Brüdern? Und viel wichtiger, was habt Ihr denn vor mit dem Haus?“
„Wir werden es wohl verkaufen.“
„Nein“, entrüstete sich Martin. „Das kommt gar nicht in Frage. Ein solches Haus kann man nicht hergeben.“
„Ich werde ganz sicher nicht in dem Haus wohnen, und was Mutter in den letzten Jahren so von Konrad erzählt hat, scheint der ziemlich klamm zu sein. Ständig. Der braucht Geld. Ganz einfach. Und Frank ist es egal. Der ist froh, wenn sich jemand um das Aufräumen kümmert. Wenn es nach ihm ginge, könnte ich auch alles einem Makler übergeben, der Räumung und Verkauf in einem Abwasch regelt.“
Читать дальше