Langsam bewegte sich der Zug der „Weißkittel“ von Patient zu Patient, doch Dr. Horak blickte gelangweilt und desinteressiert ins Leere, um sich nach Abschluss der Visite wieder lustlos an den Schreibtisch zu lümmeln.
Auch in den darauf folgenden Wochen sprach er nur gelegentlich mit seinen Ärztekollegen einige kurze Sätze. Als er, nach deren Ansicht, ausreichend über alle Besonderheiten der Tagesabläufe informiert worden war, sollte er ab jetzt, wenn er in den Dienst eingeteilt war, als hauptverantwortlicher Arzt allein die Stellung halten, ärztliche Tätigkeiten übernehmen, wie Formulare ausfüllen oder Rezepte unterschreiben oder in Notfällen mithelfen. Die Hauptarbeit verrichteten die Pflegepersonen, mit denen er auch nach Wochen noch kaum ein Wort gewechselt hatte.
Niemals sah ich Dr. Horak eine wirklich ärztliche Tätigkeit ausführen. Manchmal beschlich mich die Vermutung, er wäre vielleicht gar kein Arzt, sondern würde sich nur als solcher ausgeben. Gelegentlich hörte man Berichte in den Medien von Leuten, die sich jahrelang als Arzt ausgaben, jedoch weder ein Medizinstudium absolviert hatten noch über eine ärztliche Zulassung verfügten.
Von anderen Ärzten, die bei uns arbeiteten, erfuhr ich, dass keiner der Mediziner bei seiner Einstellung in unsere Klinik einen schriftlichen Nachweis seiner akademischen Ausbildung hatte vorlegen müssen. Wahrscheinlich genügte es, zu sagen: „Ich bin Arzt und interessiere mich für die vakante Stelle.“ Auf Grund der Schwierigkeiten, geeignete Mediziner zu finden, war man von Seiten der Geschäftsleitung diesbezüglich wohl nicht mehr wählerisch.
Dr. Horak nützte seine glückliche Lage in vollen Zügen aus. Wenn er nicht gähnend und gelangweilt am Schreibtisch lümmelte, surfte er im Internet oder verbrachte den ganzen Tag schlafend auf der Couch im Besprechungszimmer. Generell ließen wir ihn gewähren, denn medizinische Unterstützung konnte von ihm sowieso keine erwartet werden. Von der Geschäftsleitung kam die Aussage, wir sollten froh sein, dass wir überhaupt die Arztstelle noch besetzen konnten und man wolle keine Klagen bezüglich der mangelnden Qualifikation dieses neuen Arztes hören.
Einzelne Patienten fragten natürlich schon nach. „Was ist denn das für ein arroganter Schnösel? Der meint wohl, er sei etwas Besseres! Den frag ich schon gar nichts, der kennt sich sowieso nicht aus!“ Solche und ähnliche Kommentare hörte man ständig von den Patienten. Natürlich verstand es sich von selbst, dass wir als Pflegepersonen diese Anmerkungen überhören mussten, auch wenn wir in Gedanken den Patienten Recht gaben.
Unter Berücksichtigung der dreimonatigen Kündigungsfrist sollte mein letzter Arbeitstag Ende September sein, so war es möglich, dass alle Kolleginnen und Kollegen den gewünschten Sommerurlaub noch konsumieren konnten.
Den Patienten beabsichtigte ich meinen Entschluss, die Klinik zu verlassen, erst im September mitzuteilen, weil ich allzu emotionale Abschiede vermeiden wollte. Nachdem ich manche Patienten schon seit zwanzig Jahren gut kannte und durch die Zeit ihrer langen und schwerwiegenden Erkrankung betreut und begleitet hatte, waren sie mir ziemlich ans Herz gewachsen. Viele von ihnen kamen mir vor wie gute Freunde und ich dachte schon mit Wehmut daran, mich endgültig von ihnen trennen zu müssen.
Es war ein heißer Tag im Juli und ich kam vormittags zum Dienst. Da derzeit einige Kolleginnen und Kollegen in Urlaub waren, arbeitete ich nun vermehrt bei den Patienten, um die Personalengpässe in dieser Zeit zu kompensieren. Mein Dienst sollte an diesem brütend heißen Sommertag aber nur bis 17 Uhr dauern, denn ich wollte auch einmal früher nach Hause kommen.
Als ich den Behandlungssaal betrat, bemerkte ich Dr. Horak, wie er gerade wieder einmal lustlos und fast schon auf der Schreibtischplatte liegend, einige tschechische Seiten im Internet studierte. Rund um ihn herrschte hektisches Treiben. Einige Patienten beendeten gerade ihre Therapie und verließen den Behandlungsraum, andere trafen bereits zur Nachmittagstherapie ein.
Eine ältere Frau war kollabiert und die beiden anwesenden Krankenschwestern bemühten sich, die kaltschweißige und blasse Patientin auf einer Liege zu platzieren. Das Telefon läutete und im Gang der Klinik wartete ein Lieferant schon ungeduldig auf eine Unterschrift, weil er leider zu höchst ungünstiger Zeit einen riesigen Berg von Schachteln mit Medizinprodukten, die in seinem LKW lagerten, abliefern sollte. Ein anderer Patient fragte noch schnell nach einem Rezept, da er die Medikamente heute dringend brauchte und Dr. Horak brummte genervt: „Warten Sie draußen, ich habe jetzt keine Zeit!“ Eine ältere gehbehinderte Dame musste zu ihrem Transporttaxi hinausbegleitet werden, damit sie dort sicher ankam und nicht stolperte. Ein achtzigjähriger Mann saß in einem Rollstuhl und fragte schon ziemlich ungehalten: „Wie lange muss ich denn noch auf mein EKG warten?“
Es handelte sich mal wieder um einen ziemlich hektischen Vormittag und so war ich, kaum in den Dienst gekommen, wie die anderen Krankenschwestern, vollauf beschäftigt.
Doch all die Hast um ihn herum schien Dr. Horak nicht im Geringsten zu betreffen oder zu stören. Als würde ihn das alles nichts angehen, betätigte er fast wie automatisch die Tasten des Computers, um nun die nächste Runde seines inzwischen gestarteten Computerspiels fortzusetzen.
Eilig rannte ich am Schreibtisch vorbei. Ich musste noch dringend die Blutdruckwerte einer Patientin aufschreiben und als ich den Kugelschreiber neben Dr. Horak erblickte, fragte ich knapp: „Kann ich den schnell haben?“ Schon war ich weitergelaufen und Dr. Horak meinte: „Ja, aber nur kurz, den will ich wieder haben.“ Ich dachte: „Macht der zur Abwechslung auch mal einen Scherz?“ Der Kugelschreiber war ein billiges Werbegeschenk einer Pharmafirma und konnte von uns allen genutzt werden. Neben Dr. Horak stand ein Glas mit noch mindestens zehn weiteren dieser Werbe-Kugelschreiber auf dem Schreibtisch.
Nur wenige Augenblicke später rief Dr. Horak schon ziemlich ungehalten zu mir herüber: „Bring sofort den Kugelschreiber zurück, ich will ihn jetzt auf der Stelle wiederhaben!“ Sein ungeduldiger Militärton, der mir galt, hallte durch den gesamten Raum. Da ich gerade mit einer Patientin beschäftigt war und nicht weg konnte, entgegnete ich ihm: „Nimm doch einen der anderen Kugelschreiber, die neben dir im Glas stehen. Ich kann hier gerade nicht weg.“
Zornig schrie Dr. Horak nun zu mir herüber: „Bring mir jetzt sofort den Kugelschreiber zurück!“ Nein, das konnte wohl nicht wahr sein! Er behandelte mich geradezu wie einen Hund. Da langweilte sich dieser Kerl am Schreibtisch und sah die Arbeit nicht, schrie aber quer durch den Behandlungsraum wegen eines Kugelschreibers. Einige Patienten hinter mir murmelten: „Was hat denn der? Der spinnt wohl!“
Da ich die betagte, gehbehinderte Dame nicht loslassen konnte und es für mich das Wichtigste war, sie zuerst zu versorgen, führte ich meine Arbeit zu Ende.
Anschließend brachte ich ihm kommentarlos den Kugelschreiber an den Schreibtisch. Es befanden sich noch einige Patienten im Raum, als er mich gleich daraufhin anbrüllte: „Ich sag dir eines: In Zukunft hast du keinen Kugelschreiber mehr vom Schreibtisch zu nehmen! Und wenn ich sage, du kommst her, dann hast du auf der Stelle herzukommen und das auszuführen, was ich von dir verlange! Ist das klar?“ Ich war entsetzt über diesen Befehlston und meinte: „Wie kann man nur wegen eines Werbekugelschreibers, der uns allen gehört, so einen Aufstand machen?“ Zornig schnauzte er zurück: „Hast du das noch nicht kapiert? Wenn ich dir sage, was du zu tun hast, dann wirst du es beim nächsten Mal unverzüglich durchführen! Ich werde es dir jetzt nicht noch einmal sagen!“
Innerlich bebte ich vor Entsetzen und Wut. In den letzten Jahren hatte ich mir schon ziemlich viel gefallen lassen müssen, aber jetzt war das Maß voll und ich konnte einfach keine Grobheiten und Beleidigungen mehr ertragen. Was meinte dieser dahergelaufene Frechling, der hier absolut nichts leistete, eigentlich? Bevor ich das Gefühl hatte, zu explodieren und womöglich noch irgendetwas sagen würde, was man mir anschließend vorwerfen konnte, verließ ich schnell, aber schweigend, den Raum. Ich eilte in mein Büro und verschloss hinter mir die Türe. In den nächsten Minuten würden alle Nachmittagspatienten eintreffen und es gab gleich jede Menge zu tun. Da war es nicht möglich, mich einfach von der Arbeit abzusetzen und meine Kolleginnen im Stich zu lassen. Ich atmete tief durch und versuchte, das sich nun ankündigende Weinen zu unterdrücken. Es war jetzt vollkommen unmöglich, einfach in Tränen auszubrechen. Mein einziger Gedanke war: „Reiß dich jetzt zusammen, dieser Arzt ist ein Trottel und du darfst das, was er gesagt hat und vor allem, wie er es gesagt hat, nicht ernst nehmen.“ Mein Atem ging immer schneller und das Gefühl, panisch nach Luft ringen zu müssen, wurde immer stärker. Der Puls begann zu rasen. Obwohl ich es verhindern wollte, merkte ich, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Ich musste weinen und hatte das Gefühl, nie mehr damit aufhören zu können. Immer wieder wusch ich mein Gesicht mit kaltem Wasser und schaute in den Spiegel. Mit diesen rot-verweinten Augen konnte ich keinesfalls bei den Patienten erscheinen. Ich schluckte immer wieder, nahm mir fest vor, jetzt mit dem Weinen aufzuhören und versuchte verzweifelt mittels Wimperntusche und Makeup die Rötungen in meinem Gesicht zu kaschieren. Dann ging ich wieder nach unten. Im Behandlungsraum herrschte eine seltsame Stille und Anspannung. Die Patienten saßen schon auf ihren Plätzen und warteten auf den Beginn ihrer Therapie. Keine der Schwestern sprach ein Wort und Dr. Horak saß am Schreibtisch vor dem Computer und surfte im Internet, als wäre nichts geschehen. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und begrüßte die Patienten lächelnd. Innerlich war es mir immer noch zum Weinen zumute, aber keinesfalls durfte irgendjemand etwas davon merken.
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