Alles war mir nun egal, die bedrückenden Schwierigkeiten wollte ich jetzt einfach loswerden. Ich war mir so sicher, dass ich mein Arbeitsverhältnis beenden musste, um endlich irgendwann wieder ein glückliches Leben und eine innere Ausgeglichenheit erlangen zu können. Diese Gewissheit gab mir ein starkes und erleichterndes Gefühl. All den Ballast der jahrelang andauernden Schwierigkeiten, den ich schon viel zu lange mit mir herumschleppte, wollte ich nun auf einmal abwerfen, wie einen erdrückend schweren Rucksack. Das war nun mein einziger tiefer Wunsch. Keine Minute lang dachte ich daran, was danach kommen würde. Schlimmer konnte es nirgends mehr sein. So erklärte ich: „Ich kann nicht mehr anders, ich möchte nicht mehr hier arbeiten.“
Der Chefarzt und sein Sohn, der Geschäftsführer, glaubten, nicht richtig zu hören und fragten mich mehrmals, ob das wirklich mein voller Ernst sei und ich mir diese Entscheidung auch wirklich gut überlegt habe.
„Du wirst keine finanzielle Abfertigung bekommen, wenn du jetzt kündigst“, hörte ich noch einmal die nun ermahnende Stimme von Klaus. In diesem Moment war mir das alles gleichgültig. Ich sagte: „Es ist mir egal! Ich kann einfach nicht mehr so weiterzumachen.“ „Du wirst auch einen Monat lang kein Arbeitslosengeld bekommen, wenn du jetzt selbst kündigst.“ Ich hörte seine Einwände schon ganz weit weg und konnte die Tragweite dieser Situation gar nicht mehr vernünftig einschätzen. Mein einziger Gedanke war nur noch, dass ich weg wollte, dass ich soeinfach nicht mehr weitermachen wollte. „Ich kann einfach nicht mehr, ich schaffe das alles nicht mehr!“ so rief ich es fast verzweifelt heraus.
Weinend saß ich auf dem blauen Sofa des Besprechungsraumes und der Schweiß lief mir in Bächen herunter. Ich wünschte mir so sehr, jetzt einen vertrauten Menschen an meiner Seite zu haben, der mich seelisch unterstützt hätte. Es ging mir dabei nicht darum, einen Zeugen zu haben, was allerdings auch nicht schlecht gewesen wäre. Obwohl ich die starke Schulter eines Ehemannes eigentlich selten vermisste, so sehnte ich mich in diesem Moment nach einer nahestehenden Person, um dieser Situation nicht so schrecklich schutzlos ausgeliefert zu sein. Aber es blieb mir nichts anderes übrig, da musste ich nun alleine durch.
Ich zitterte am ganzen Körper. Mein Mund war vollkommen ausgetrocknet und ich fühlte mich total erschöpft, als hätte ich eine stundenlange, anstrengende Bergwanderung hinter mir. Mein Puls raste und ich hörte das laute Pochen in meinen Ohren. Auch wenn meine Kündigung nicht gerade vernünftig erschien, so spürte ich doch gleichzeitig, dass diese Entscheidung schon mehr als überfällig war.
Als der Chefarzt nun erkannte, wie ernst mein Entschluss war, meinte er zu seinem Sohn: „So kann man sie nicht gehen lassen nach all den Jahren, das kann man nicht machen. Wir besprechen dann noch anschließend miteinander in deinem Büro, welchen Abfertigungsbetrag wir ihr auszahlen werden.“
Er wandte sich nun wieder mir zu und sprach in sehr mildem Ton: „Wir werden Ihnen ausnahmsweise einen Anteil der Abfertigungssumme auszahlen, denn Sie haben ja doch viele Jahre für uns gearbeitet.“ Gleichzeitig empfahl er mir, in eine einvernehmliche Lösung des Arbeitsverhältnisses einzuwilligen, da dies für mich eher von Vorteil wäre. Ich kannte mich diesbezüglich nicht aus, stimmte dann aber seinen Vorschlägen zu.
Danach merkte der Chefarzt noch an: „Ich weiß, das ist ein Mangel bei uns, dass wir die Anerkennung bei den Mitarbeitern nicht so zeigen, aber wir sind halt so. Sie müssen es immer so sehen: „Nicht geschimpft ist auch gelobt“.“
Nach dieser gefühllosen Bemerkung standen beide auf. Kein Wort des Dankes oder einer kleinen Anerkennung nach so vielen Jahren. Ein kurzer Händedruck, das war alles, was mein Chef nach dreiundzwanzig Jahren für mich übrig hatte. Emotionslos und kühl konnte er sich doch noch eine nichtssagende Phrase zum Abschied abringen, während er mir die Hand reichte: „Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft.“ Damit drehte er sich um und ging.
Weinend und enttäuscht dachte ich mir, dass man wirklich wie eine Nummer behandelt wird, sobald man die Leistung nicht mehr erbringt. Gleichzeitig wurde mir aber auch bewusst, dass meine Chefs nun gerade, wie schon so oft, ihr wahres Gesicht gezeigt hatten, und dass jemand, der nur über ein bisschen guten Charakter verfügt, sich wohl in diesem gesamten Gespräch anders verhalten hätte.
Da dies eigentlich mein freier Tag gewesen sein sollte, verließ ich sofort nach dieser Besprechung die Klinik und hoffte, in meinem Zustand keinem meiner Kollegen zu begegnen, denn ich schämte mich dafür, so verheult auszusehen. Bis zuletzt wollte ich Haltung bewahren, was mir aber nun nicht mehr gelang.
Ich fuhr ein kleines Stückchen mit dem Auto zu einem nahe gelegenen Fluss und hoffte, dort einige Zeit allein sein zu können. Nachdem ich mein Auto auf dem angrenzenden Kiesplatz an der Uferzone geparkt hatte, verspürte ich beim Aussteigen eine ziemliche Schwäche in meinen Beinen und ein erhebliches Zittern in den Knien.
Alles um mich herum erschien mir wie durch einen dunstigen Schleier verschwommen und vollkommen unwirklich, aber auch gleichzeitig wie in einem schlimmen Albtraum. So lief ich ohne Ziel auf einem am Flussbett entlang führenden Kiesweg dahin und meine Gedanken schienen vollkommen durcheinander geraten zu sein. Ständig versuchte ich all das Vorgefallene zu sortieren, dann sprach ich innerlich wieder zu mir selbst: „Jetzt hast du das alles hinter dir, sei froh, jetzt kannst du aufatmen!“ Total aufgewühlt, versuchte ich vergeblich innerlich zur Ruhe zu kommen, indem ich langsam und gleichmäßig atmete und mich auf verschiedene Dinge in meiner Umgebung konzentrieren wollte. Die spärlichen Blumen am Wegesrand, die glühende Hitze der Sonne, das wilde Rauschen des Flusses, der knirschende Kies unter meinen Schuhen, all das versuchte ich bewusst wahrzunehmen, um mich abzulenken. Doch es gelang mir nicht. Die Gemeinheiten, die ich gerade schon wieder in diesem Abschlussgespräch an den Kopf geworfen bekommen hatte, verfolgten mich erbarmungslos und ich musste ständig daran denken, was gerade vorgefallen war. Ziellos lief ich sicher noch zwei Stunden durch die Gegend und ständig fing ich wieder an zu weinen und zu schluchzen.
Am nächsten Tag die Arbeit wieder anzutreten, war nicht einfach. Ich versuchte, mein Gemüt auf „Alltag“ zu programmieren. Was blieb mir anderes übrig?
Nachdem die Klinik schon längere Zeit dringend nach ärztlichem Personal gesucht hatte, konnte eine der offenen Stellen schließlich mit Dr. Horak, einem tschechischen Mediziner, besetzt werden. Auf unsere bange Frage an die Geschäftsleitung, ob dieser Arzt wohl der deutschen Sprache mächtig sei, wurden wir beruhigt. Sein Deutsch sei nahezu perfekt bis auf einen leichten Akzent.
Dr. Horak war relativ jung und von hagerer Statur. Sein blasses, ernstes Gesicht zeigte keinerlei Gefühlsregung oder Mimik. Schon am ersten Tag benahm er sich sehr seltsam. Anstatt sich bei Ärzten und Pflegeteam vorzustellen, setzte er sich wortlos an den Schreibtisch und lümmelte lustlos auf dem Bürostuhl hin und her, während er fast schläfrig die Ellbogen auf die Schreibtischplatte stützte. Demonstrativ fing er immer häufiger an zu gähnen, bis ihn ein Arztkollege aufforderte, mit ihm zu kommen. „Komm mit zur Visite.“ Beide gingen von Patient zu Patient, während Dr. Horak den Kranken vorgestellt wurde. Der neue Mediziner konnte sich kaum zu einem hörbaren Gruß aufraffen. Er war wohl nicht gerade die Höflichkeit in Person. Leise murmelnd erörterten die Ärzte mit ihrem neuen Kollegen die Krankengeschichten der jeweiligen Patienten. Wenig begeistert folgte er den Schilderungen. Seine schlaffe, nach vorne hängende Körperhaltung zeigte einen ziemlich gleichgültigen Ausdruck. Gelegentlich brummte er ein gelangweiltes „Mhm“, aber das war schon alles. Er stellte keine interessierten Fragen an die Kollegen und er richtete auch kein einziges Wort an die Patienten. Auf diese Weise wäre wenigstens gleich ein angenehmer und freundlicher Kontakt zwischen ihm und den Kranken entstanden. Nein, er fand es nicht einmal für notwendig, sich bei den Patienten vorzustellen, als er im Kreis der Ärztekollegen der Visite beiwohnte.
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