„Was sagte ich gerade? Ach ja, es gibt eine weitere europäische Minderheit hier. Mir fällt es jetzt ein, weil Sie Deutscher sind. In den dreißiger Jahren,“ sie führte die Zigarette wieder an den Mund, kippte dann die Asche auf den Rand der Untertasse „hatten sich die Philippinen bereit erklärt, einen Teil Eurer Juden hier aufzunehmen. Tausende sind seinerzeit ins Land gekommen. Viele sind wohl nach Deutschland zurückgekehrt, viele werden nicht mehr leben. Und die Nachkommen, die im Lande blieben, sind auch Philippiner geworden.“
Dem überraschten Zuhörer war, als säße er in der Schule und hörte aufmerksam seiner Lehrerin zu. Plötzlich erinnerte sich Hermann an Todesanzeigen in den lokalen Tageszeitungen, die hin und wieder bekannte deutsche Namen enthielten und ihn für Augenblicke stutzig machten. Dies also war des Rätsels Lösung. Sein Respekt vor Elvira wuchs mit jedem Satz, der aus ihrem schönen Munde kam. Nicht nur war ihre Erscheinung außergewöhnlich, auch ihre Intelligenz war alles andere als durchschnittlich. Hermann genoss ihre Nähe, fühlte sich zu ihr hingezogen und vergaß darüber das doch so wichtige Telefongespräch.
Hinter den großen Scheiben zur Straße hin sah er, wie die Abenddämmerung das gleißende Licht des Tages ablöste und die Straßenlampen angeschaltet wurden. Er konnte Elvira jetzt unmöglich verlassen und wagte eine Offerte.
„Elvira, es ist für mich ein ganz besonderes Erlebnis, mit einer so interessanten Vertreterin dieses Landes zusammen sitzen zu dürfen. Und wenn ich ehrlich bin, so würde ich Ihnen gerne noch ein wenig zuhören. Ob ich Sie zu einem Abendessen einladen darf?“
Elvira blickte den alternden Freier überrascht in die Augen, sagte nichts. Und Hermann hätte viel darum gegeben zu wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Für einen Moment war er verunsichert. Ihn irritierten die braunen Augen, deren Farbe er erst jetzt bemerkte. Glaubte er anfangs , eine gewisse Traurigkeit in ihnen erkannt zu haben, so schien es ihm für Augenblicke, als sprächen Kälte, gepaart mit Spott aus ihnen. Aber es waren wirklich nur Augenblicke und Hermann hätte sich genauso gut irren können.
Schnell kehrte das herzliche Lächeln auf ihr Gesicht zurück. Sie blickte auf ihre zierliche, goldene Armbanduhr, überlegte kurz und nahm die Einladung schließlich an. Hermann war erleichtert, eine Absage hätte ihn getroffen.
„Elvira, ich fühle mich in dieser durchschwitzten Kleidung nicht wohl. Ich kann Ihnen zwei Vorschläge machen. Entweder wir treffen uns später, sagen wir in zwei Stunden. Oder aber Sie sind geduldig und warten, bis ich mich umgezogen habe.“
Die Schöne überlegte nicht lange.
„Hermann, ich wohne draußen im Stadtteil Alabang, Sie haben vielleicht davon gehört. Es liegt zehn bis zwölf Kilometer von hier entfernt. Ich würde mit Sicherheit zwei Stunden im Auto sitzen, ohne Dusche. Ich warte hier auf Sie. Außerdem verspreche ich Ihnen, dass es nicht weit von hier die schönsten und besten Restaurants der Stadt gibt.“
Herrmann konnte dies alles nicht fassen. Ungläubig lauschte er ihrem Vorschlag und sagte sofort zu. Er befand sich in geradezu euphorischer Stimmung, überschwänglich spurtete er die Stufen hoch zu seinem Zimmer. Zu ungeduldig war er, auf den Aufzug zu warten.
Was für eine Frau, ging es ihm durch den Kopf! Eine Schande, sie nicht schon früher getroffen zu haben! Gleichzeitig aber war er froh, zumindest noch einen weiteren Tag, den Tag des Abflugs eingeschlossen sogar zwei, hier verbringen zu können. Aber am Abreisetermin am übernächsten Abend war nicht zu rütteln.
Und wieder dachte er an den schon überfälligen Anruf! Sarah wartete! Aber der Zeitpunkt war absolut ungelegen. Einen Tadel seiner Frau würde er in Kauf nehmen müssen!
Es dauerte keine zwanzig Minuten, und ein übermütiger, frischer Hermann war bereit, sich auf ein Abenteuer einzulassen. Er ordnete schnell sein Zimmer, denn selbst einen späteren Besuch schloss er jetzt nicht mehr aus. Und er bat telefonisch, eine Flasche französischen Rotweins mit zwei Gläsern während seiner Abwesenheit auf sein Zimmer zu bringen.
Genüsslich strich er einige Tropfen seines Rasierwassers über Kinn und Wangen, nahm einen größeren Betrag Bargeld aus seinem kleinen Safe, schloss diesen sorgfältig und ging zur Tür. Am Wandspiegel davor blieb er einen Augenblick stehen. Kritisch begutachtete er seine Kleidung, gab sich einen Klaps auf die Wange und sagte laut „Viel Glück, Alter!“
Er verstand sich gut mit seinem ICH, und jeder war mit dem anderen bislang zufrieden. Dann eilte er, drei Stufen auf einmal nehmend, die marmorne Treppe hinunter zur Lobby.
Elvira saß nicht auf ihrem Platz. Mit allem hatte Hermann gerechnet, nicht aber damit. Die aufkommende Panik war jedoch vollkommen unbegründet. In der Nähe der Rezeption sprach sie gerade mit einer Angestellten des Hotels. Plötzlich drehte sie ihren Kopf in seine Richtung, fast so, als sei sie bei einer Unregelmäßigkeit ertappt worden. Und kam dem Wartenden lächelnd entgegen.
„Sie scheinen sich in diesem Hotel zu Hause zu fühlen“. Hermann sagte es im Scherz und war erleichtert und glücklich zugleich.
„Keineswegs“, antwortete Elvira in bestimmendem Ton „ich erkundigte mich gerade nach einem Restaurant. Die Anschrift war mir entfallen und das Mädchen dort drüben konnte mir helfen.“ Hermann hörte es gern. Sie war die Frau, wie er sie sich vorstellte. Gut aussehend, intelligent, sorgend, praktisch veranlagt und ihr wahrlich nicht einfaches Schicksal selbständig meisternd.
„Hermann!“, Elvira nahm beherzt seinen Arm „ich kenne nicht weit von hier entfernt eines der besten Restaurants. Das Mädchen gab mir gerade die Anschrift. Wir können dorthin laufen, keine zehn Minuten wird es dauern“.
Wohler und umsorgter konnte sich ein Fremder in fremder Umgebung nicht fühlen. Mit einer Mischung aus Stolz, Geborgenheit und Neugier verließ Herrmann mit seiner anmutigen Begleiterin das Hotel.
Sie traten hinaus in einen schwülen, von alten Straßenlampen erhellten Abend. In gehobener Stimmung, der Wirklichkeit schon ein wenig entrückt und mit deutlich geschwellter Brust, schlenderte er, sie untergehakt, zurück zur Mabini-Street. Zur alten Kirche und rechts ab in Richtung des farbenprächtig erhellten ADRIATICO CIRCLES.
Hier nun war tatsächlich alles vorhanden, um selbst den kulinarisch Verwöhnten gütlich zu stimmen. Ein Restaurant reihte sich an das nächste, die schäbigen Bürgersteige waren mit Touristen gefüllt, mit einheimischen Bummlern und ungezählten kleinen und großen Gaunern. Letztere waren Meister der Rede- und Überredungskunst, begleiteten, verstohlen um sich blickend und immer auf der Hut, ihr Opfer.
Unauffällig redend boten sie ihre Dienste an. Ob Shabu, das am Ort hergestellte synthetische Rauschgift, auch Heroin aus dem Norden Luzons, kleine Mädchen, kleine Jungs, Falschgeld oder Hehlerware. Rundum-Angebote waren an der Tagesordnung und so mancher Tourist bereute es später, den ausgelegten Köder angebissen zu haben.
„Hermann, dort drüben, das “Guernica“!“
Elvira drückte seinen Arm fest an ihre Seite und trat vom Bürgersteig auf die Straße. Beide warteten, bis sich eine Lücke im dahinziehenden Autoverkehr auftat und überquerten dann schnell die Fahrbahn.
Hermann blickte auf die gegenüberliegenden Häuserzeilen, konnte aber den von Elvira genannten Namen nirgends lesen. Sie umkreisten ein baumloses, heruntergekommenes Rondell, in dessen Mitte sich ein kreisrunder, brüchiger Brunnen befand. Auf den steinernen Rändern saßen die Habenichtse von der Hoffnung getragen, vom Wohlstand der anderen zu profitieren. Kleine, schmuddelige Jungs, nur mit schmutziger, kurzer Hose und Gummisandalen bekleidet. Die älteren zusätzlich mit löchrigen T-Shirts.
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