Gonzague Maris setzte sich ohne viel Widerstreben an das Piano.
»Eines der zwölf Klaviere in Syrien«, verkündete Gabriel, »es wurde vor einem Vierteljahrhundert für meine Mutter aus Wien bezogen. Kristaphor aber hat mir erzählt, daß mein Bruder Awetis aus Aleppo einen Fachmann kommen ließ, um es instand zu setzen. In den letzten Wochen seines Lebens hat er oft gespielt. Und ich wußte gar nicht, daß er musikalisch war ...«
Gonzague griff ein paar Akkorde. Aber wie es schon geht, der Künstler fand nicht den rechten Ton für die späte Stunde, für die ungewohnten Ohren und das Erfrischungsbedürfnis seiner Zuhörer. Nachlässig, den Kopf über die Tasten gebeugt, die Zigarette im Mund, saß er da – seine Finger aber gerieten immer tiefer in makabre Weisen. »Verstimmt, schrecklich verstimmt«, murmelte er und konnte sich vielleicht deshalb nicht von dem klagenden Tongeschlecht losreißen. Ein Schleier von Langweile und Abspannung legte sich auf sein vorhin noch so hübsches Gesicht. Bagradian betrachtete von der Seite dieses Gesicht, das ihm jetzt nicht mehr knabenhaft schüchtern, sondern zweideutig und abgelebt erschien. Er sah sich nach Juliette um, die ihren Stuhl in die Nähe des Klaviers geschoben hatte. Ihr Gesicht war plötzlich alt und verfallen. Auf seine fragende Miene gestand sie leise:
»Kopfschmerzen ... Von diesem Wein ...«
Gonzague brach unvermittelt ab und schloß den Deckel: »Verzeihen Sie bitte«, sagte er.
Obgleich Lehrer Schatakhian, um seine musikalische Weihe zu beglaubigen, das Klavierspiel des Fremden in Fachausdrücken pries, war die Heiterkeit dahin. Kurz nachher eröffnete Frau Pastor Nokhudian den Aufbruch. Man übernachte zwar bei Freunden in Yoghonoluk, müsse aber schon bei Sonnenaufgang den Weg nach Bitias antreten. Am längsten zögerte Oskanian, der Schweiger. Als die andern schon in den Park traten, kehrte er noch einmal zurück, ging mit seinen kurzen Beinen streng und zu allem entschlossen auf Juliette zu, so daß diese leicht erschrak. Er überreichte ihr aber nur einen großen, in armenischer Schrift mit verschiedenfarbigen Tinten herrlich beschriebenen Bogen, ehe er verschwand.
Es war ein schwungvolles Gedicht verehrender Liebe.
Als Juliette in der Nacht jäh erwachte, sah sie Gabriel im Bette neben sich starr aufrecht sitzen. Er hatte seine Kerze angezündet und mußte die Schläferin schon lange beobachtet haben. Sie spürte deutlich, daß nicht die Flamme, sondern sein Blick sie aus dem Schlafe gerissen hatte.
Er berührte ihren Arm:
»Ich wollte dich nicht wecken, habe mir aber gewünscht, daß du von selbst aufwachst.«
Sie schüttelte das Haar zurück. Ihr Gesicht war frisch und freundlich:
»Du hättest mich ruhig wecken können. Mir macht das nichts. Du weißt es ja. Für nächtliche Plaudereien bin ich immer zu haben.«
»Ich habe hin und her gedacht ...«, erklärte er ungenau.
»Und ich habe göttlich geschlafen. Meine Kopfschmerzen kamen also nicht von eurem armenischen Wein, sondern vom Klavierspiel meines – comment dire? – demi-compatriote. Komischer Einfall! Yoghonoluk als Kurort zu benutzen und zu Herrn Krikor in Pension zu gehen. Das Komischste aber ist der kleine schwarze Lehrer, der mir das zusammengerollte Plakat übergeben hat. Und auch der andre Lehrer, der so langsam durch die Nase bellt! Er hält das wahrscheinlich für besonders vornehmes Französisch. Wie eine Mischung von Steineklopfen und Hundewinseln klingt das. Ihr Armenier habt alle eine sonderbare Aussprache. Selbst du bist nicht ganz frei davon, mein Freund. Nun, man muß nicht gar zu streng sein. Es sind doch recht liebe Leute.«
»Arme, arme Menschen sind es!«
Dieser Ausbruch rasselte gequält aus Gabriels Brust. Juliettens Stimme wurde weich:
»Ich habe mich gekränkt, daß du weggeritten bist, ohne mir ein Wort zu sagen. Ich hätte dir auch Proviant mitgegeben ...«
Er schien ihre fürsorglichen Worte gar nicht zu hören:
»Keinen Augenblick habe ich geschlafen. Mir ist so vieles eingefallen. Das Diner bei Professor Lefevre, damals. Und mein erster Brief an dich.«
Juliette hatte an Gabriel niemals auch nur die geringste Sentimentalität bemerkt. Um so mehr setzte er sie jetzt in Erstaunen. Schweigend blickte sie zu ihm hinüber. Die Kerze hinter seinem Rücken bewirkte, daß des Mannes Gesicht unsichtbar blieb und nur sein Oberkörper wie ein großer schwarzer Block sich abzeichnete. Gabriel aber sah – da nicht nur die Kerzenflamme, sondern das erste sternhafte Morgenzwielicht auf Juliette fiel – ein zartschimmernd helles Wesen sich gegenüber: »Vierzehn Jahre waren es im Oktober. Das größte Geschenk meines Lebens. Und doch, es war eine schwere Schuld. Ich hätte dich nicht losreißen, nicht in ein fremdes Verhängnis stürzen dürfen ...«
Sie griff nach den Streichhölzern, um nun auch ihre Kerze anzuzünden. Er haschte nach ihrer Hand und verhinderte es. So traf sie seine Stimme wieder aus der gestaltlosen Schwärze:
»Es wäre das beste, du würdest dich retten ... Wir sollten uns scheiden lassen!«
Sie schwieg lange. Es fiel ihr nicht ein, daß dieser tolle, ganz und gar unbegreifliche Antrag mit ernsten Dingen im Zusammenhang stehn könnte. Sie rückte näher zu ihm:
»Hab ich dir weh getan, dich gekränkt, dich eifersüchtig gemacht? ...«
»Nie bist du gütiger zu mir gewesen als heute abend. Seit Jahren schon hab ich dich nicht so lieb gehabt ... Doch um so schrecklicher!«
Er stützte sich höher auf, wodurch der dunkle Block seiner Gestalt noch fremder wurde:
»Juliette, du mußt ernst nehmen, was ich sage. Ter Haigasun wird alles tun, um unsere Scheidung so schnell wie möglich durchzuführen. Und die türkische Behörde macht bei solchen Dingen keine Schwierigkeiten. Dann bist du frei, keine Armenierin mehr, und kannst dich lossagen von dem grauenhaften Volksschicksal, in das du durch meine Schuld geraten bist. Wir reisen nach Aleppo. Dort stellst du dich als Europäerin unter den Schutz eines Konsuls, des amerikanischen, des schweizerischen, gleichviel. Dann bist du in Sicherheit, was auch hier und dort geschehen mag. Stephan kommt mit dir. Ihr werdet ungehindert die Türkei verlassen dürfen. Mein Vermögen und meine Einkünfte werde ich natürlich auf euch überschreiben ...«
Er hatte krampfhaft und schnell gesprochen, damit sie ihn nicht unterbreche. Juliettens Gesicht aber kam dem seinen ganz nahe:
»Und diesen Wahnsinn meinst du wirklich ernst?«
»Wenn alles vorüber ist und ich noch lebe, dann komm ich ja wieder zu euch.«
»Und gestern haben wir doch in aller Ruhe besprochen, was geschehen soll, wenn du einberufen wirst ...«
»Gestern? Gestern war alles falsch. Unterdessen aber hat sich die Welt verändert.«
»Was hat sich verändert? Die Geschichte mit den Pässen? Wir werden neue bekommen. Und du selbst sagst doch, daß du in Antiochia nichts Schlimmes erfahren hast.«
»Ich habe zwar manches Schlimme erfahren, aber darauf kommt es nicht an. Was sich tatsächlich verändert hat, ist vielleicht sehr wenig. Aber das kommt plötzlich wie ein Wüstensturm. Die Väter in mir, die namenlos gelitten haben, spüren es. Der ganze Lebensstoff spürt es. Nein, das kannst du nicht begreifen, Juliette. Wer niemals um seiner Rasse willen gehaßt worden ist, kann das nicht begreifen.«
Juliette sprang aus dem Bett, setzte sich zu ihm, nahm seine Hände:
»Du bist genau wie Stephan. Wenn der einen schweren Traum gehabt hat, erwacht er auch nur halb und ist eine Stunde lang verstört. Warum sollten denn gerade wir in Gefahr sein? Ich denke an deine türkischen Freunde, an diese reizenden feinen Menschen, die wir in Paris bei uns so oft zu Gast gehabt haben. Und das sollten auf einmal heimtückische Bestien geworden sein? Nein! Ihr Armenier habt den Türken immer unrecht getan.«
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