Nach dieser Zeremonie brauchte es keinen weiteren Beweis, dass die Helessans als eine Familie mit großer Zukunft galten. Allerdings schien es noch nicht dazu zu reichen, dass der Patriarch der Stadt, Sanadro Chulefan Pavatra, es für nötig hielt, sich blicken zu lassen oder auch nur einen Vertreter zu schicken. Es sei denn, man wollte Garred Tenarson dazuzählen, Abgesandter der reichsten Kaufmannsfamile Urdlands und zuverlässiger Geldbringer des Fürsten. Auch Garred dürfte zu denjenigen gehören, die sich seit neuestem berufen fühlten, einem Helessan die Ehre zu erweisen. Als er Kerim gegenüberstand, zeigte der blonde, hochgewachsene Mann eine Vertrautheit, als würde er nach langer Zeit einen alten Freund begrüßen, obwohl sie sich zum ersten Mal aus nächster Nähe sahen. Der Urdländer machte jedoch keine Anstalten, ein Gespräch zu beginnen, sondern reihte sich recht unauffällig in den Strom übrigen Trauergäste ein.
Die Menge der Gäste schrumpfte sichtlich während der Prozession zum Helessan-Haus, wo die Trauerfeier ihre Fortsetzung nehmen sollte. Trotz dieser Verkleinerung der Gesellschaft wimmelte es überall, in der Eingangshalle, im Innenhof, auf der Galerie und im Esszimmer von Menschen, deren Gesichter Kerim noch immer zum größten Teil unbekannt waren. Einige Derjenigen, die vorher von Gram geradezu überwältigt schienen, schafften es hier offenbar recht schnell, wieder in fröhliche und gesellig Stimmung zu kommen. Kerim staunte immer wieder über die Fähigkeit, diesen Wechsel innerhalb kürzester Zeit zu vollziehen. Einige der Gäste, die Kerim zum ersten Mal zu sehen glaubte, sprachen ihn mit seinem Namen an, um ihm Beileid zu wünschen. Kerim war nicht so unhöflich, geradeheraus nachzufragen, woher sie ihn kannten, andererseits auch nicht raffiniert genug, ihnen die Antwort nebenbei im Gespräch zu entlocken. Vermutlich hatten sie sich nur bei Bekannten über ihn erkundigt.
Kerim war allgemein nicht zu angeregter Unterhaltung aufgelegt. Die Luft im Haus war durch die Gegenwart der großen Menschenmenge noch heißer und schwüler als sonst, nahezu unerträglich. Da er nicht ständig unbeteiligt herumstehen konnte, unterhielt er sich hin und wieder mit einigen Bekannten, hauptsächlich aber mit Familienmitgliedern wie Onkel Anduri, wenn dieser einmal Zeit fand, oder mit Takali Beressan und dessen Frau Siadri, Ayanlas Eltern, und natürlich mit Sheza. Hauptsächlich ging es dann um Kerims Erlebnisse in der Ferne, weniger um das, was sich in Pavat abgespielt hatte oder was die Zukunft hier noch bringen sollte. Kerim hatte das Gefühl, dass sie beide versuchten, dieses Thema möglichst zu vermeiden. Er war fast froh, dass Sheza immer wieder Gesellschaft von Bekannten und Freunden bekam, die als Gäste gekommen waren, so dass er sich nicht verpflichtet fühlen musste, sich ständig mit ihr zu unterhalten. Allerdings bekam er auch Schuldgefühle bei dem Gedanken, ihr absichtlich auszuweichen. Garred Tenarson gehörte zu denjenigen, die während des Zuges der Menge zum Helessan-Haus abhanden gekommen waren. So eng war die Beziehung also doch noch nicht, als dass sie bis in den innersten Kreis reichte.
Kerim überlegte gerade, wie er es anstellen könnte, sich möglichst unauffällig für kurze Zeit in sein Zimmer zurückzuziehen, um ein wenig Erholung von der stickigen Luft und dem Lärm der unzähligen Gespräche zu bekommen, als er von der Seite angesprochen wurde. Die weibliche Stimme, die seinen Namen ausgesprochen hatte, konnte er im ersten Augenblick nicht einordnen, obwohl sie ihm auf seltsam unangenehme Weise bekannt vorkam. Erst als er ihr den Blick zuwandte, erkannte er schlagartig das dazugehörige Gesicht und musste sich stark zusammennehmen, um keinen dümmlichen Ausruf des Erstaunens auszustoßen. Vor ihm, im Halbschatten eines Stützpfeilers der Galerie, stand niemand geringeres als Seára Khadris, Ehefrau von Varol Khadris, einem der alteingesessenen Kaufleute von Pavat. Sie gehörten zum kleinen Kreis der alten Gründerfamilien, die schon so etwas wie eine Adelsschicht darstellten, in Rang und Ansehen gleich unter dem Patriarchen. Kerim hatte sie während der Zeremonie nicht bemerkt. Vielleicht hatte er sie einfach übersehen, vielleicht war sie auch gar nicht dabei gewesen und erst hier zu den Gästen gestoßen. Kerim traute ihr das durchaus zu..
Er fühlte auf zweierlei Art Unbehagen: Zum einen, weil er sich in Seáras Gegenwart immer beklommen und eingeschüchtert fühlte, und andererseits, weil er genau diese Gefühle nicht beherrschen konnte. Er hasste sich dafür, dass er ihr nicht mit Gleichgültigkeit entgegentreten konnte. Er schaffte es nie, sie eine größere Verachtung spüren zu lassen als die, die sie ihm entgegenbrachte.
„Ich möchte dir mein Beileid für den Tod deines Vaters aussprechen“, sagte sie nun mit unbewegter Miene.
Kerim brachte ein „Danke“ heraus, während er ihr Gesicht zu lesen versuchte. Die kleine, dürre Frau mit den streng zurückgesteckten Haaren, die schon von zahlreichen grauen Strähnen durchzogen waren, hatte ihn bestimmt nicht nur wegen dieser Geste der Höflichkeit angesprochen. Die Tatsache, dass sie sich dazu herabgelassen hatte, das Haus der Helessans aufzusuchen und gezielt Kerim anzusprechen, musste einen tieferen, für sie viel wichtigeren Grund haben. Dafür sprach auch der eindringliche Blick, den sie auf ihn richtete. Kerim wagte es nicht, seinen eigenen Blick schweifen zu lasen, um nach dem Ehemann der kleinen Frau zu suchen. Dann fiel ihm ein, dass Khamir erwähnt hatte, dass dessen Krankheit in Kerims Abwesenheit weiter fortgeschritten war. Er hätte seine Frau gar nicht begleiten können. Wenn sie Diener mitgebracht haben sollte, was Kerim für wahrscheinlich hielt, dann bemerkte er sie jetzt nicht.
Kurz bevor das Schweigen zwischen ihnen zu lang gedauert hätte, um nicht peinlich zu sein, ergriff Seára wieder das Wort: „Ich würde mich gerne mit Dir über etwas unterhalten. Können wir einen etwas stilleren Ort aufsuchen?“
Kerim konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, was sie mit ihm zu besprechen hätte.
„Äh, ja“, war das einzige, was er hervorbrachte, während er sie mit einer Geste aufforderte, ihn zu begleiten. Er führte sie zu seinem Zimmer, weil ihm im Augenblick kein geeigneterer Ort einfiel und weil er ohnehin schon fast dort angekommen war, als er ihr begegnet war. Als er die Tür hinter ihnen beiden schloss und den Lärm damit dämpfte, war er zumindest erleichtert über die etwas angenehmere Luft in seinem kleinen Zimmer. Der Nachmittag war schon weit fortgeschritten, und die Hitze war nicht mehr ganz so unerträglich. Sein Zimmer war ohnehin etwas kühler als andere Teile des Hauses, weil es im Norden lag.
Er bot der alten Frau den einzigen hier vorhandenen Stuhl an. Als sie sich gesetzt hatte, stand Kerim eine Weile unschlüssig im Raum und setzte sich dann auf die Kante seines Bettes. Dies alles kam ihm seltsam unwirklich vor. Das letzte Mal hatte er Seára Khadris im großen Speisesaal ihres Anwesens gegenüber gesessen. Sie in dieser Umgebung zu sehen schien umso seltsamer, als sowohl ihre Haltung als auch ihr Gesichtsausdruck fast dieselben waren wie bei ihrer letzten Begegnung vor so langer Zeit. Er hatte das Gefühl, irgendetwas Unverfängliches sagen zu müssen, doch er wusste nicht was. Wieder drohte das Schweigen zwischen ihnen unangenehm zu werden. Abermals ergriff die alte Frau das Wort, während sie Kerim weiterhin unablässig fixierte.
„Ich möchte Dich um einen Gefallen bitten“, sagte sie mit unverändert regloser Miene. Kerim hoffte, dass sie ihm seine Überraschung bei diesen Worten nicht zu deutlich ansah.
„Ich will keine großen Umschweife machen.“ Dennoch zögerte sie. Kerim hatte das Gefühl, dass es sie trotz ihrer letzten Worte große Überwindung kostete, fortzufahren. „Ich weiß, dass dir immer noch etwas an Kenola liegt.“
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