„Diese Leute waren nicht hinter euch her, zumindest nach allem, was ich weiß“, sagte der Fremde. „Sie begegneten euch nur zufällig. Ich bin es, den sie verfolgten.“
Churon wandte sich müde ab. Erzähl mir etwas über sinnlosen Tod , dachte er. Bevor er etwas erwidern konnte, bemerkte er etwas seltsames an der Leiche eines der Jäger, die in der Nähe einer glimmenden Fackel lag. Er griff nach der Fackel und sagte: „Wir sollten für etwas mehr Licht hier sorgen. Ich möchte diese Kerle gern durchsuchen.“ Er hielt die wieder aufflackernde Fackel über den Kopf des Toten und hielt verblüfft die Luft an. Es war kein menschliches Gesicht, das er da sah. Haut von seltsam rauer Beschaffenheit, Nasenlöcher ohne Nase, ein breiter Schlitz als Mund, dem Lippen fehlten, und im Tode aufgerissene Augen, die seltsam golden leuchteten und schlitzartige Pupillen aufwiesen. Die Erkenntnis durchzuckte ihn unvermittelt. „Ich fasse es nicht. Das ... muss ein Schlangenmensch sein.“
„Tatsächlich?“ fragte der Fremde ohne ein Anzeichen von Überraschung in seiner Stimme.
Churon starrte den Toten weiterhin unverwandt an. Er wandte den Blick jetzt dem Körper zu und betastete dabei suchend dessen Kleidung. Sie bestand aus mehreren Schichten, wie er feststellte. Unter dem Lederwams fühlte er einen seltsam weichen und dünnen Stoff, dessen Farbe er im Dämmerlicht nicht genau feststellen konnte. Das Hemd war nun zu einem großen Teil mit Blut durchtränkt. Die raue, in kurzen Klauen auslaufende Hand hielt immer noch die Waffe umklammert. Dabei handelte es sich um ein Schwert von einer fremdartig anmutenden Form, das eine gewisse Ähnlichkeit mit den gebogenen Klingen der Menschen aus Ialontena aufwies. Andererseits war es viel schmaler und wirkte eleganter, ein Eindruck, der durch den kunstvoll geschnitzten Griff und die Gravuren im Metall noch verstärkt wurde.
„Das ist das erste Mal, das ich eine von diesen Kreaturen zu Gesicht bekomme. Warum war sie mit richtigen Menschen unterwegs? So als wäre das Ding ein ganz gewöhnliches Mitglied der Gruppe.“
„Willst du mich auf den Arm nehmen?“ fragte der Fremde. „So weit aus dem Norden kannst du doch gar nicht kommen, um so ahnungslos zu sein. Oder...“ Der Fremde stockte, als würde ihm plötzlich etwas einfallen. Churon beachtete ihn nicht weiter, weil ihm nun selbst ein Gedanke kam. Er richtete sich auf und hastete von einer Leiche zur nächsten, bis er fand, was er suchte.
„Tatsächlich. Hier ist noch einer von der Sorte. Kaum zu erkennen hier im Halbdunkel und unter der Kapuze.“ Er begutachtete den letzten Toten. „Das ist wieder ein Mensch. Also fünf Menschen und zwei von diesen Echsen.“ Er verharrte in Gedanken versunken im fahlen Lichtkreis der glimmenden Fackeln. „Die waren wohl wirklich nicht hinter mir und meinen Leuten her.“
„Ich störe dich nur ungern in deiner Andacht“, warf der Fremde ein, „doch sollten wir überlegen, was wir als nächstes tun. Der Blutgeruch wird Raubtiere anlocken. Also sollten wir entscheiden, ob wir die Leichen verscharren oder uns weit genug von diesen Schlachtplatz entfernen. Zumindest wäre etwas mehr Feuer angebracht.“
Churon stimmte dem zu. „Ja, ich bin auch für mehr Helligkeit. Entfachen wir erst einmal ein größeres Feuer und entscheiden dann, was wir weiter unternehmen. Im Augenblick bin ich noch zu geschafft für größere Anstrengungen.“
Als sie die Fackeln sammelten und trockenes Holz zusammensuchten, sprach der Fremde das Thema an, das Churon schon länger im Kopf herumging, das er aber anzuschneiden bis jetzt gezögert hatte. „Wie sieht eigentlich dein weiterer Weg aus? Wäre es nicht sinnvoll, wenigstens einen Teil davon gemeinsam zu gehen, nun, da du deine Gefährten eingebüßt hast?"
Churon überlegte nur einen kurzen Augenblick. „Der Vorschlag erscheint mir wohl sinnvoll.“ Er sah in Richtung des Fremden. „Es könnte jedoch gefährlich für dich werden. Du solltest wissen, dass ich auf der Flucht bin."
„So ein Zufall, das bin ich ebenfalls“, erwiderte der Fremde. „Vielleicht flieht es sich gemeinsam leichter?“
„Nun gut. Ich denke, ich habe von dir nach dieser Geschichte nicht viel zu befürchten. Und was meinen Weg betrifft, so war ich mir darüber weniger im klaren, als ich gegenüber meinen Leuten zugegeben habe. Mein Ziel war und ist im Grunde nur der Süden.“ Das stimmt zwar nicht ganz, sollte aber fürs erste reichen , dachte Churon.
„Euer Vertrauen ehrt mich“, sagte der Fremde, der nun näher zum Lagerfeuer trat. „Der Vorteil gegenseitigen Schutzes und einer Aufteilung der Wache überwiegt in unserer Lage wohl die erst Furcht vor dem Fremden.“
Nach der letzten Bemerkung stahl sich ein spöttisches Grinsen auf Churons Gesicht, und er sah auf, um zu einer Entgegnung anzusetzen, woraufhin jedoch das Grinsen einem verblüfften Ausdruck wich und ihm die Worte im Halse stecken blieben. Der Fremde musste dies bemerkt haben, denn er sagte mit einem ironischen Unterton in der Stimme. „Ja, hier im Süden kann man schneller in seltsame Gesellschaft geraten, als man denkt. Das dürfte doch einige deiner vorherigen Fragen beantworten.“ Churon starrte auf das Gesicht vor ihm. Er erinnerte sich plötzlich an das Schwert des Fremden, das ihm sofort aufgefallen war, die Ähnlichkeit in der Form. Er hatte einfach den Zusammenhang nicht erkannt. Erst jetzt, als er in das grünliche, lippenlose Gesicht mit den gelb leuchtenden Augen sah, begriff er.
Wie sollte er sich nun verhalten angesichts der völlig neuen und unerwarteten Tatsache, der er sich gegenübersah? Sollte er diese bestürzende Wendung des Schicksals hinnehmen oder dagegen ankämpfen? Alles sah danach aus, dass seine Zukunft schon verplant war und in der Aussicht bestand, sein restliches Leben an einem fernen Ort unter fremden Menschen zu verbringen, die er wahrscheinlich nie ganz verstehen würde. Wäre er fähig, sich selbst glauben zu machen, dass dies die große Herausforderung sei, auf die er schon immer gewartet hatte? Wäre es überhaupt möglich, dagegen rebellieren und zu versuchen, aus seiner Zwangslage auszubrechen? Hätte jemand Kerim vor Jahren diese Frage als Gedankenspiel gestellt, wäre er wohl genauso wenig in der Lage gewesen, sie zu beantworten, wie er es jetzt war.
Er hatte seine Entscheidung noch nicht getroffen und bemühte sich redlich, sie so lange wie möglich vor sich her zu schieben. Glücklicherweise standen zunächst einmal nahe liegendere Dinge an, die seine Aufmerksamkeit forderten. Vorbereitungen für ein Fest waren zu treffen, es war dafür zu sorgen, dass es in einem angemessen Rahmen stattfand, der den Status der Familie (und des Verstorben, der Anlass der Veranstaltung war) wiederspiegelte.
Die Trauerfeier für Chadim Helessan war die größte, die seine Familie jemals abgehalten hatte, wenn man die Anzahl der Gäste als Maßstab nahm. Diese waren so zahlreich erschienen, dass während des ersten Teils der Zeremonie, als die Asche dem Tempel des Asal übergeben wurde, ein Teil der Menge auf dem Tempelplatz, vor den Türen des nicht gerade kleinen Gebäudes, ausharren musste. Kerim stellte fest, dass diejenigen Gäste, deren Gesichter und Namen ihm bekannt waren, bei weitem in der Minderheit waren. Einige der unbekannten Gesichter, die an ihm vorbeizogen, zeigten Trauer, und einige weinten sogar wegen des Todes von Chadim Helessan. Kerim stellte fest, dass er selbst zu einer solchen Gefühlsäußerung an diesem Tag ebenso wenig fähig war wie an allen anderen Tagen seit dem Tod seines Vaters. Er konnte nicht genau beschreiben, was in ihm vorging. Er fühlte sich die ganze Zeit über wie ein unbeteiligter Beobachter, allerdings nicht wie ein zufälliger Zeuge, sondern eher wie jemand, der ein Buch las oder einer Geschichte lauschte, vielleicht auch wie ein Geist, der, selbst unsichtbar, das Geschehen wie durch einen Schleier wahrnahm.
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