»Dies hier ist unser Cedan - Center«, erklärte Misaki. »Es ist eine Art Theater, Begegnungszentrum und Rathaus zugleich. Es finden hier Diskussionen, Vorträge, Theateraufführungen und Spiele statt. Die meisten Einwohner von Cedan – Stadt kommen regelmäßig her.«
»Was wird denn heute hier gezeigt?«
»Dein Leben«, antwortete Misaki. Erschrocken fuhr Rick zurück.
»Mein Leben? Ihr wollt mein Leben hier im Stadion ausbreiten?« Mit weit aufgerissenen Augen sah er Misaki ungläubig an.
»Wenn du bei uns leben willst, wird jeder, den du triffst, über dein irdisches Leben Bescheid wissen, so wie du auch in jeden Anderen hineinsehen kannst. Es gibt hier keine Geheimnisse.«
»Das lass ich nicht mit mir machen!«, stieß Rick
unbeherrscht hervor. »Wir werden dich nicht dazu zwingen. Du musst uns dann aber verlassen«, entgegnete Misaki bestimmt.
»Wenn ich zustimme kann ich bleiben?« fragte Rick, der verunsichert Misaki anstarrte.
»Nein, das entscheidet die Mehrheit.«
»Es kann also sein, dass hier mein ganzes Leben ausgebreitet wird und ihr schickt mich dann weiß Gott wohin?« Rick hatte sich immer noch nicht beruhigt.
»Ja, so kann es kommen, es kann aber auch sein, dass du in unsere Reihen aufgenommen wirst.«
»Obwohl ich als geiler Bock den Tod einer Frau zu verantworten habe?«, schrie Rick außer sich.
»Du hast an Anna keinen Mord begangen, oder sagen wir mal, du wolltest sie nicht töten. Trotzdem trägst du Mitschuld an ihrem Tod. Das musst du aber vor dir selbst verantworten. – Nicht vor uns. Wir entscheiden hier nur, ob du bleiben kannst.«
Misaki hatte ganz ruhig, aber bestimmt gesprochen. Er sah Rick einen Moment an, ohne etwas zu sagen, dann baute er sich vor ihm auf und es war pure Autorität, die jetzt aus ihm sprach:
»Ich sage dir jetzt, wie die Dinge in dieser neuen Welt ablaufen«, kündigte Misaki an, »und hör mir gut zu! Du hast hier Gelegenheit noch mal neu anzufangen. Du fängst hier an, wie du auf der Erde aufgehört hast. Hast du als Arschloch aufgehört zu leben, wirst du hier als Arschloch anfangen. So einfach ist das.« Er machte eine Pause, um seinen Worten Gewicht zu verleihen, dann sprach er weiter:
»Du bist hier wieder Kind und hast heute gerade laufen gelernt. Dass du ein toller Hecht warst, eine Menge Geld verdient hast, interessiert hier keinen. Auch wenn du ein Vermögen zusammengebracht hättest, es würde keine, aber auch gar keine Bedeutung haben. Das Einzige, was hier zählt ist, wie du dich in deinem irdischen Leben, anderen Menschen gegenüber, verhalten hast. Hättest du dir in deinem Leben mehr Sorgen um deinen Bruder gemacht oder Mitgefühl und Verständnis für deine Mitmenschen gezeigt, hätten wir jetzt kein Problem. So wie die Dinge aber liegen, ist wohl eine Abstimmung nötig. Aber auch das solltest du positiv sehen, denn wenn wir kein Interesse an dir hätten, würden wir uns gar nicht erst die Mühe machen und abstimmen. Denn wir wissen, dass jeder der hier ankommt Schuld auf sich geladen hat und Hilfe benötigt. Die Hilfestellung geben wir dir gerne, wenn die Mehrheit dafür ist. Versuche dem gegenüber offen zu sein und sehe die Welt hier wie ein Kind sie sehen würde. Darin liegt deine einzige Chance.«
Die Auflehnung in Rick steigerte sich. Der Kerl redet mit mir, wie es mein Vater getan hatte, fiel ihm ein. Gab es denn hier auch solche Idioten? Er wusste, dass er allergisch auf so einen Ton reagieren würde. Total verunsichert starrte er Misaki an. Rick nahm wahr, dass Misaki seine Gedanken mitbekam, denn er sah ihn jetzt mit einer Überlegenheit an, die spürbar schmerzte.
Aus den Augenwinkeln bekam er mit, dass sich das Stadion weiter füllte. Von überall her strömten Leute in das Auditorium. Als er jetzt herabsah, stellte er fest, dass sich schon mindestens zwanzigtausend Leute versammelt hatten.
»Wie viel kommen denn noch?«, fragte er bestürzt.
»Es werden über Dreißigtausend sein«, antwortete Misaki.
»Die kommen alle wegen mir?«
»Nein, so wichtig bist du auch wieder nicht. Es sind auch noch vier Frauen auf Cedan angekommen«, kam die Antwort. » »Aber wie ich aus deinen Gedanken ablesen kann, hast du es immer noch nicht begriffen!... Du bist hier nichts und kannst hier auch nichts. Eventuelle Fähigkeiten musst du erst noch erlernen. Vergiss, wer du bist und vor allen Dingen was du gewesen bist. Du musst bereit sein, deine Vergangenheit bedingungslos offen zu legen, mit offenem Visier jedem gegenüber zu treten, dann erst kannst du wieder bei Null anfangen. Es gibt hier keine Lügen, keine verdeckten Schachzüge, keine Hinterhältigkeiten, sie würden sofort auffallen. Offenheit und Ehrlichkeit sind die Grundlage deines neuen Lebens und unserer Gesellschaft hier. Bist du dazu nicht bereit, musst du gehen!«
Eine lange Pause entstand.
Rick hatte Mühe, das alles zu verarbeiten. Der Kerl war wie ein Mühlstein, und er war zwischen die malenden Steine geraten. So hatte noch keiner mit ihm gesprochen. Was bildete sich der Japaner überhaupt ein, dachte er. Gut, er war kein Musterknabe gewesen, aber musste er sich deshalb von diesem Kerl so runtermachen lassen?
Es hatten sich inzwischen noch mehrere Personen zu ihnen gesellt. Es handelte sich um die vier Frauen, von denen Misaki gesprochen hatte. Sie sahen sich ängstlich aber auch neugierig um, registrierte er. Wie er, hatten sie Begleitpersonen an ihrer Seite, die sich jetzt Misaki zuwandten. An einer dieser Frauen blieb Ricks Blick hängen. Im Gegensatz zu den drei Anderen, machte sie einen gefassten Eindruck. Sie war groß und schlank, hatte kurzgeschnittenes Haar, das wohl in ihrem Leben schwarz gewesen sein musste. Bemerkenswert an ihr war jedoch der stolze Blick, mit dem sie ihn jetzt musterte. Sie hieß Abigail und hatte in England gelebt, sah er jetzt. Doch bevor er sich weiter mit ihr befassen konnte, wurde er von Misaki abgelenkt, der in Begleitung Callums auf ihn zukam.
»Rick Bender, bist du bereit?«, sprach Callum ihn an. Im Gegensatz zu Misaki, war Callums Auftreten voller Wärme. Er trat so nah an ihn heran, dass Rick jede Zeichnung seiner Augen wahrnehmen konnte. Er spürte, wie er dem Mühlstein entkam und seufzte erleichtert auf. Callum lächelte ihm jetzt aufmunternd zu. »Bist du bereit?«, wiederholte er. Rick blickte nach unten in das Rund und sah, dass es jetzt ringsum mit Menschen gefüllt war. Unschlüssig spähte er in die Runde. Abigails Blick, der immer noch auf ihm ruhte, war eher spöttisch. Als er erneut in Callums Augen sah, stand sein Entschluss fest!
»Ich bin bereit«, hörte er sich selbst sagen.
Er wusste, seine Stimme hatte sich belegt und nicht überzeugend angehört, aber jetzt war es raus und verflucht, er wollte auch nicht mehr zurück. Zwei Frauen in langen, blauen Gewändern, hatten ihn in ihre Mitte genommen.
»Folgt mir bitte«, sagte Callum und schwebte langsam von der Plattform, nach unten der Brücke zu. Als sie die breite Fläche erreicht hatten, hob Callum die Arme und es wurde still im Stadion. Gleichzeitig verdunkelte sich langsam das Rund. Nur die brückenähnliche Bühne war noch in gleißendes Licht getaucht.
»Heute sind fünf Personen bei uns angekommen!« Callums Stimme hallte laut ins Rund, als hätte er ein Mikrofon benutzt.
»Rick Bender wird der erste sein, der sich bei uns vorstellt.« Bei diesen Worten wies er mit dem linken Arm auf Rick. Die beiden Frauen, neben ihm, forderten ihn auf, sich in die Mitte zu stellen. Als er den Punkt erreicht hatte, traten sie zurück, während Callum nach oben davon schwebte.
Rick blieb hilflos zurück. Bei dem Gedanken, dass jetzt dreißig-tausend Augenpaare auf ihn gerichtet waren, wurde ihm heiß. Auf was hatte er sich hier eingelassen?
Dann senkte sich langsam eine Glaskuppel auf ihn herab. An ihrer Oberfläche fing es an zu flimmern, und erstaunt sah er sich plötzlich, riesengroß als Kind, mit seinem Bruder im Garten spielen. Ein übergroßes 3-d-Bild war entstanden, das über der Glaskuppel schwebte und wie ein Film ablief. Was jetzt folgte, erlebte er wie in Trance. Im Zeitraffer sah er sein ganzes Leben ablaufen. Aber er schien seltsam unbeteiligt. Manche Passagen waren deutlich, andere hingegen rasend schnell und wie durch einen Nebel zu sehen. Wie lange es gedauert hatte, konnte er nicht einschätzen, als es plötzlich dunkel wurde. War es jetzt vorbei? Die Kuppel hob sich über ihm und Licht erhellte wieder das Rund.
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