Als Anna den Schrei vernahm, war sie ebenfalls stehen geblieben. Neugierig kam sie auf ihn zu.
»Hast du dich verletzt?«
»Mein.... Knöchel«, stieß er hervor und versuchte sich bei ihr abzustützen, indem er seinen Arm um ihre Schulter legte. Ihre Haut war schweißnass und elektrisierte ihn förmlich. Sie hatten beide auf seinen Fuß gestarrt. Er hob aber jetzt den Kopf und legte seinen Mund an ihren Hals. Der Kuss rief starkes Verlangen in ihm hervor und er zog sie näher an sich heran. Sie kam ihm entgegen und berührte mit ihrer Hüfte scheinbar unabsichtlich sein Glied. Rick schmeckte die salzige Feuchtigkeit auf ihrer Haut, erwiderte den Druck und küsste leidenschaftlich ihre geöffneten Lippen. Sie erwiderte den Kuss, schob beide Hände unter sein T-Shirt und drückte ihn an sich. Er tastete jetzt mit seiner rechten Hand nach ihrer Brust. Doch als er sie berührte, stieß sie ihn urplötzlich von sich.
»Bist du verrückt geworden?«, platzte es aus ihr heraus.
Rick keuchte erregt und er machte erneut den Versuch, sie an sich zu klammern. Er konnte die neue Situation nicht verstehen, wollte in ihren Augen ablesen, was sie dachte. Irritiert sah er das verlangende Glitzern in ihren Augen. Ihr leicht geöffneter Mund sprach die gleiche Botschaft. Er reagierte jetzt nur noch, konnte seinem Verlangen nur ohnmächtig nachgeben. Seine Hand hatte ihr T-Shirt gefasst.
»Warum so stürmisch? Kannst du es nicht erwarten?«
Ihre Stimme lockte, doch ihre Arme stießen ihn erneut in ein Vakuum hinein. Kaum nahm er wahr, wie ihr T-Shirt zerriss. Wie von Sinnen starrte er auf ihren nackten Busen. Abermals versuchte er sie an sich zu reißen. Sie sah ihn jetzt spöttisch an, genoss sein unbändiges Verlangen, umfasste mit beiden Händen ihre Brust und hielt sie ihm entgegen. Gleichzeitig bewegte sie sich lauernd rückwärts, von ihm weg, ohne zu merken, dass sie sich gefährlich der Abbruchkante des Steinbruchs genähert hatte. Ihren verlangenden Blick auf Ricks ausgebeulte Hose gerichtet, ging ihr nächster Schritt ins Leere. Rick sah nur noch ihre weit aufgerissenen, erstaunten Augen, dann war sie weg, einfach weg. Er hörte mit zunehmenden Entsetzen ihren langgezogenen Schrei und den dumpfen Aufschlag ihres Körpers im Abgrund. Dann war es still. Unheimlich still. Er brauchte einige Zeit in die Wirklichkeit zurück. Wie benommen stand er da und versuchte, das Geschehene zu begreifen. Die Sonne schien nicht mehr, der Wald hatte aufgehört zu existieren. Es gab nur noch diesen verfluchten Abgrund. Sein lähmendes Entsetzen verstärkte sich mit jedem Herzschlag. Es schlug zum Hals heraus, als wolle es sich übergeben. Sein stierer Blick suchte nach einem Halt, etwas Festem, an das man sich klammern konnte. Langsam nahmen die Dinge wieder ihre Form an. Der blutrote Wald wurde wieder grün, und die absolute Stille wurde vom Gezwitscher der Vögel verdrängt. Vorsichtig näherte Rick sich dem Abgrund. Ängstlich sah er über die Kante in den Steinbruch hinunter. Anna lag dort unten, eigenartig verkrümmt, neben einem Busch. War sie in das Strauchwerk gefallen? Es befand sich in der direkten Falllinie. Anna jedoch lag daneben, auf blankem Felsen.
Mein Gott, wie war das nur passiert. Ricks Gehirn fing wieder an zu arbeiten. Aus dem Stand lief es jetzt auf Hochtouren. Fieberhaft überlegte er, was zu tun sei. Er musste Hilfe holen. Jetzt sofort. Nach Anna zu sehen, hatte keinen Zweck, wertvolle Zeit würde verloren gehen, da der Weg in den Steinbruch zu weit war. Ob sie wohl noch lebte? fragte er sich. Hoffnung stieg in ihm auf und wurde zum Motor. Er rannte los, den Waldweg zurück. Seine Geschwindigkeit musste er zügeln, da es in Windungen bergab ging. Hatte er sein Handy im Auto? Hatte er es überhaupt mitgenommen? Er versuchte sich zu erinnern. Als er jetzt den Parkplatz erreichte, standen ihre Autos wie verwaist im Schatten der Bäume. Seine Hoffnung, dort jemanden anzutreffen, zerstob in tausend Stücke. Sein Autoschlüssel, wo war sein Autoschlüssel? Gehetzt durchsuchte er seine Hosentaschen. Ja, da waren sie. Mit zitternden Händen schloss er seinen Wagen auf. Wo war das Handy? Nein, er musste es zu Hause liegen gelassen haben. Verflucht, hatte Anna ihr Handy mitgenommen? Er sprang zu ihrem offenen Wagen hinüber und durchsuchte ihn. Auch das Handschuhfach war leer. Scheiße, verdammte Scheiße, er musste zu einem Telefon. Wo war hier ein Telefon? Seine Gedanken fuhren bereits die Landstraße hinunter, bis in den Ort hinein. Ja, an der ersten Kreuzung stand eine Telefonzelle. Er sah sie deutlich vor sich. Überhastet stieg er in seinen Wagen und raste ohne sich anzuschnallen los. Hoffentlich lebte sie noch, hoffentlich! Wie von Sinnen beschleunigte er den Wagen bis an das Machbare. Mit quietschenden Reifen nahm er die Kurven der sich windenden Landstraße. Zu spät sah er den Trecker mit dem voll beladenen Anhänger, der vom Feld auf die Straße fuhr.
Ausweichen konnte er nicht mehr. Die Landstraße war auf beiden Seiten mit dicht stehenden Bäumen flankiert. Der Schreck war fürchterlich. Mit aller Kraft stieg er auf die Bremse. Doch in der nächsten Sekunde war ihm bewusst, dass er in den Anhänger rasen würde. Mit weit aufgerissenen Augen sah er das Hindernis auf sich zukommen. Es gab kein Entrinnen. Mit dumpfen Knall brach sein Wagen in die hintere, linke Seite des Anhängers.
Seine letzten Sekunden dehnten sich ins Unermessliche. Er sah sich als Kind mit seiner Mutter im Garten, sah den Drachen, den er mit seinem Vater gebaut hatte, sah seinen Bruder im Sandkasten spielen. Im Zeitraffer lief sein Leben vor ihm ab. Als er den Sturz Annas in den Steinbruch noch mal durchlebte, jede Kleinigkeit wie in Zeitlupe, an sich vorbeilaufen sah, packte ihn eine fürchterliche Angst. Dann war es soweit. Die Lenksäule drang tief in seinen Brustkorb ein. Es tat eigentlich gar nicht so weh, dachte er noch, als sein Kopf auf dem Armaturenbrett aufschlug. Jäh wurde es dunkel.
Doch dann geschah etwas Unglaubliches. Wie aus einem tiefen Schlaf erwachend nahm er seine Umgebung wieder wahr. Wieso lebte er noch? Er sah sich selbst total verkrümmt und blutüberströmt im Auto sitzen. Eine eigenartige Leichtigkeit nahm ihn gefangen. Langsam, ganz langsam löste er sich aus der Betrachtung. Jetzt sah er das Auto, das nur noch ein Haufen zusammengedrücktes Blech war, unter sich. Sah den jungen Mann, der in einer viel zu großen Latzhose steckte, erschrocken vom Trecker springen. Er entfernte sich weiter, immer weiter. Die Straße, die sich wie ein Bandwurm durch die Landschaft schlängelte, verschwand. Ein eigenartiges Licht umgab ihn jetzt. Die Sonne war es nicht, dachte er. Ruhe trat ein. Eine absolute Ruhe in Verbindung mit einer erstaunlichen Geborgenheit. Wie wohl das tat.
Dann war da noch etwas. Er konnte es erst nicht benennen. Es war nur angenehm und es wurde immer stärker. So etwas wie Liebe umgab ihn. Er spürte es jetzt deutlich. Dieses Gefühl durchdrang ihn immer mehr. Es erhält mich am Leben, dachte er. Eine Energie, die völlig Besitz vom ihm nahm, verbunden mit diesem eigenartigen Licht. Das Licht nahm jetzt langsam ab. Er hatte das Gefühl zu schweben. Erste Umrisse wurden wieder deutlich. Grenzenloses Erstaunen erfasste ihn, als er die Erde als Kugel sah. Wie ein riesiger blau schillernder Ball bewegte sie sich durchs All. Und er entfernte sich weiter, mit zunehmender Geschwindigkeit. Eine Energie hatte ihn erfasst, die ihn immer schneller von der Erde wegzog. Die strahlend blaue Erdkugel wurde kleiner, bis sie schließlich mit ihrem Mond nur noch kleine, helle Punkte waren. Die absolute Ruhe und das Gefühl von Geborgenheit blieb. Er versuchte an sich herunterzusehen, doch da war nichts. Eigenartig, trotzdem existierte er. War das alles ein Traum? Das konnte doch nicht sein. Er fühlte doch seine Arme und Beine, sah sie aber nicht. Er spürte auch die Beschleunigung, die immer noch anhielt. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, die Zeit würde langsamer vergehen, je schneller er wurde. Gab es überhaupt noch irgendeine Zeit, die verging? Nein, eigentlich nicht. Zumindest spürte er sie nicht mehr, oder nur noch ganz gering. Er wusste es nicht genau.
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