»Brauche deinen Rat, großer Bruder!«
Kevin war mit einem kurzärmligen, schwarzen T-Shirt und einer verwaschenen, blauen Jeans bekleidet. Schuhe hatte er nicht an. Seine nackten Füße lugten aus den Hosenbeinen heraus. Rick betrachtete seinen Bruder immer noch verärgert. Sein Aufzug passte einfach nicht hierher. Er wirkte wie ein Fremdkörper in dieser durchstylten Umgebung. Das Büro war mit anthrazitfarbenen Teppichboden ausgelegt. Die Möbel hellgrau und hochglänzend. Einige moderne Bilder, in grellen Farbtönen, betonten die mausgrauen Wände. Die vornehme Atmosphäre erhellte strahlendes Sonnenlicht, das durch ein breites, raumhohes Fenster den Raum durchflutete. Rick musste jedoch schmunzeln, als ihm einfiel, dass sein Bruder seine Wohnung und auch diesen Raum eingerichtet hatte.
»Was gibt es denn so Dringendes?«, fragte er versöhnlich.
»Will oben einige Wände einreißen. Du hast doch bestimmt noch die alten Baupläne?«
Kevin sah über die Zeitschrift seinen Bruder erwartungsvoll an.
»Die sind in der Ablage, unten im Keller«, antwortete Rick nach kurzer Überlegung.
Im Gegensatz zu Kevin hatte Rick dunkelbraunes Haar und einen dunklen, schmalen Oberlippenbart. Seine gepflegte Er-scheinung war ein weiterer, auffallender Unterschied zwischen ihnen. Ähnlichkeit war jedoch zweifelsfrei an den blauen Augen abzulesen. Man konnte an ihnen und auch am schlaksigen Körperbau ihren Verwandtschaftsgrad ablesen.
Kevin war aufgestanden.
»Kannst du mir nicht gleich ein paar Arbeitskopien der alten Pläne machen? Du weißt schon, Grundrisse, Schnitte...Bin fürchterlich im Druck, großer Bruder, muss noch einen Plan zeichnen, bevor Anna kommt!«
Im Hinausgehen wedelte Kevin mit der Zeitschrift.
»Bring ich dir gleich wieder, wenn ich die Pläne hole!« und weg war er.
Rick hörte nur noch seine Schritte auf der Treppe, auf der Kevin gewöhnlich drei Stufen auf einmal nahm. Er seufzte, stand auf und begab sich in den Keller. Kevin hatte Glück, dass er zufällig Zeit hatte. Sonst wäre der Überfall wieder ein Grund für eine Streiterei gewesen. Als er jetzt die alten Akten aufschlug und nach den Plänen sah, erinnerte er sich an die vielen Auseinandersetzungen in ihre Kindheit. Rick war sich bewusst, dass er selbst der Auslöser endloser Konfrontationen gewesen war. Er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, seinem jüngeren Bruder seinen Willen aufzuzwingen. Den Frust über die ständigen Belehrungen und Ermahnungen des Vaters hatte er stets an Kevin weitergereicht. Doch das war Vergangenheit und Rick dachte nur ungern daran. Er verdrängte die Erinnerung, da sie ein schlechtes Gewissen in ihm hervorrief. Ihr Vater war schon vor Jahren ausgezogen und dass Kevin mit ihm gegangen war, hatte er gut verstanden. Sein eigenes Verhältnis zum Vater war immer zwiespältig gewesen. Dessen Bevormundung hatte er nur schwer ertragen. Obwohl Kevin zwei Jahre jünger war als er, wurde er vom Vater ständig als Vorbild dargestellt. Kevin brachte bessere Noten nach Hause. Kevin war zuverlässiger. Kevin war aufmerksamer. Kevin... Kevin... Gott sei Dank war das Vergangenheit. Inzwischen waren neun Jahre vergangen. Als Rick jetzt die Pläne unter den Kopierer legte, dachte er daran, dass heute das Verhältnis zu seinem Bruder besser war. Doch das war nicht sein Verdienst. Kevin schien ihm sein früheres Verhalten nicht nachzutragen. Er stellte auch keine Bedrohung mehr dar. Als sie Kinder waren hatte er das anders gesehen. Kevin hatte ihm die Aufmerk-samkeit und Liebe seiner Eltern entzogen. Rick empfand das heute noch so. Es hatte ihn verstockt und hinterhältig werden lassen...
Das konnte nur Anna sein. Er hörte oben im Flur den Türsummer und die Haustür aufspringen. Dann vernahm er ihre Schritte auf der Treppe, deren Rhythmus er inzwischen genau kannte. Nachdenklich ordnete er die Zeichnungen wieder in die Akte, nahm die Kopien und wandte sich der Kellertreppe zu. Im Büro ließ er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen. Wieso dachte er über Anna soviel nach? Machte sie ihn wirklich an, oder bildete er sich das nur ein? Weshalb beschäftigte ihn diese Frau so stark? Er stand jetzt auf und öffnete die große Terrassentür. Um sich ablenken, trat er in den Garten hinaus. Beim Anblick des Grüns fiel ihm ein, dass es Zeit wurde, den Rasen zu mähen. Es war Freitag Nachmittag und das gute Wetter würde sich halten. Es waren noch einige Anrufe zu erledigen, dann würde er sich an die Arbeit machen. Jetzt freute er sich darauf.
Als er wieder das Büro betrat, stand Anna in der Tür. Sie hatte ihn wohl beobachtet, denn sie stand reglos im Türrahmen und sah ihn aufmerksam an. Ihre dunklen Augen taxierten ihn jetzt noch ernst. Aus Verlegenheit verzog Rick den Mund zu einem Grinsen, als er sie ansprach:
»Hallo Anna, habe dich eigentlich nicht erwartet.«
Anna löste sich aus dem Türrahmen und kam jetzt lächelnd auf ihn zu.
»Ich muss dich um Asyl bitten. Kevin hat mich für eine halbe Stunde rausgeschmissen. Er will seinen Plan unbedingt fertig stellen und er war der Meinung, dass ich ihn nur ablenke.«
»Das würde mir auch so gehen«, grinste Rick.
Anna war nur mit einer kurzen Sporthose und einem weiten Oberhemd bekleidet. Ihre Füße steckten in einfachen Gummilatschen. Sie trat dicht an Rick heran und küsste ihn auf die Wange. Ohne den Kopf zurückzunehmen sagte sie:
»Lenke ich dich etwa auch ab?«
Rick hatte ihren Atem auf seiner Haut gespürt. Er holte tief Luft, ehe er stockend und ausweichend antwortete:
»Ich will in den Garten, Rasen mähen. Muss mich nur noch umziehen. Du kannst mir aber helfen, wenn du willst.«
»Helfen? Beim Umziehen?«, fragte sie burschikos und sah ihn unverwandt an. Rick lachte verlegen auf:
»Anna! Bring einen alten Mann nicht durcheinander. Du kannst schon mal den Mäher aus dem Schuppen holen. Ich komme gleich nach.«
Um Fassung bemüht kamen Ricks Worte gepresst aus seinem Mund. Ihre Augen trafen sich für einen kurzen Moment, dann brach Rick den Blickkontakt ab. Er flüchtete buchstäblich aus dem Raum, da er nicht wusste, wie er mit der Situation umgehen sollte. Den spöttischen Blick Annas in seinem Rücken sah er nicht mehr. Er hörte nur ihre Stimme, die hinter ihm herrief:
»Beeil dich bitte!«
In seiner Wohnung angekommen, blieb Rick unschlüssig stehen. Er spürte wie aufgewühlt er war. War es hier so heiß, oder bildete er sich das nur ein? Mechanisch zog er sich aus. Das weiße Baumwollhemd und die helle Hose hing er sorgfältig im Schlafzimmer auf einen Bügel. Es fiel ihm schwer einen klaren Gedanken zu fassen. Annas Anwesenheit hatte ihn gefreut, gleichzeitig aber total verunsichert. Er ging ins Bad und hielt seinen Kopf unter einen kalten Wasserstrahl. Wie wohl das tat. Er würde Annas Anspielungen einfach ignorieren. Das musste doch möglich sein. Mit diesem Vorsatz zog er eine alte Hose und ein T-Shirt über und verließ seine Wohnung. Auf der Terrasse angekommen, sah er sich nach Anna um. Doch sie war nirgends zu sehen. War sie im Geräteschuppen? Plötzlich hörte er ihre Stimme. Sie schien im Vorgarten zu telefonieren. Rick ging auf die Hausecke zu, blieb dann aber abrupt stehen, als er ihre Worte verstehen konnte.
»Franco, jetzt werde nicht komisch. Ich hab dir doch gesagt, dass ich übers Wochenende in Oerlinghausen bin....Nein.... ich kann jetzt nicht nach Detmold kommen....Montag....Du wirst doch bis Montag warten können....Ja, wenn ich es dir sage, Montag bring ich dir das Geld....natürlich,....kannst dich drauf verlassen....Ich kann jetzt nicht weiterreden....ja....Montag. «
Anna hatte ihre Stimme bei den letzten Sätzen gesenkt, als wären sie für fremde Ohren nicht bestimmt. Rick gewann den Eindruck, dass ihr das Gespräch unangenehm gewesen war, denn sie hatte nervös und genervt geklungen. Irritiert stieg er in die Holzsandalen, die auf der Terrasse standen. Wer war Franco? Der Name war ihm fremd. Nie hatte Anna irgendeinen Franco erwähnt. Als sie an der Hausecke auftauchte und ihn auf der Terrasse stehen sah, konnte Rick den Schreck in ihren Augen ablesen. Sie fing sich aber sofort wieder und ein verlegenes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
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