1 ...8 9 10 12 13 14 ...48 Aus einer Laune heraus beugte sie sich nach vorn, um zu sehen, wie tief es hier hinabgehen würde. Sie rechnete schon mit einer großen Höhe, deshalb war sie entsprechend vorsichtig. Doch als sie ungebremst in eine schier bodenlose Tiefe blicken konnte – Leuchtkristalle hielten das Licht innerhalb des Schachtes hell genug dafür – stieß sie einen spitzen Schrei aus. Chalek ergriff sie sofort an den Schultern und zog sie zurück zur Felswand, wo sie sich mit wild schlagendem Herzen kraftvoll dagegen drückte. Der Junge lächelte sie an, wandte sich um und schaute dann selbst in die Tiefe. Als er sich zurückdrehte, hatte er ein breites Grinsen auf den Lippen, was auch bei Melia ein Lächeln hervorbrachte, denn ihr war klar, dass das genau das Ding des Jungen war.
Für sie aber war es eine gewaltige Höhe. Doch selbst, wenn sie hätte schätzen sollen, wäre es ihr zu diesem Zeitpunkt niemals in den Sinn gekommen, dass sich der Schacht tatsächlich über eintausend Meter in die Tiefe erstreckte!
Melia fasste all ihren Mut zusammen und spähte nochmals hinab. Chalek hielt sie dabei fest. Bevor sie sich wieder zurückzog, weil sie spürte, dass sie schwindelig wurde, konnte sie sehen, dass die Treppe und auch die Bohlen scheinbar bis zum Boden reichten.
Dann machte sie, dass sie schnell zurück nach oben kam. Der Junge folgte ihr mit enttäuschter Miene, aber Melia hatte nicht vor, hier noch länger zu bleiben, sondern wollte auf direktem Wege zurück zu ihrem Ausgangspunkt. Als sie jedoch in Chaleks Gesicht schaute, zögerte sie und schien das Für und Wider abzuwägen. Schließlich überwog doch ihre Neugier. „Na also gut!“ meinte sie. „Sehen wir mal, was passiert!“
Sie machte auf dem Absatz kehrt, betrat wieder die hölzerne Plattform, betrachtete für einen Moment den langen Hebel an der linken Seite, dann drückte sie gegen ihn. Anfangs konnte sie ihn jedoch nicht bewegen. Erst als der Junge zu Hilfe kam, gelang es ihnen und es war deutlich zu hören, wie er schließlich einrastete. Eine Sekunde lang schien nichts weiter zu geschehen und Melia befürchtete schon, dass der Mechanismus nicht mehr funktionstüchtig war, dann aber knackte und scharrte es direkt über ihnen. Als sie ihren Blick anhob, konnte sie ein halbes Dutzend weiterer Zahnräder in unterschiedlichen Größen erkennen, die hauptsächlich waagerecht unter der Decke angebracht waren und sich jetzt ächzend und stöhnend in Bewegung setzten.
Schon ging ein Ruck durch die Plattform, der Melia erneut aufstöhnen ließ, dann spürte sie, wie sich die Apparatur in die Tiefe schob.
Fasziniert von dem Mechanismus registrierte sie anfangs überhaupt nicht, dass es immer schneller abwärtsging. Schon nach wenigen Sekunden hatten sie eine Strecke von über zehn Metern zurückgelegt. Deutlich konnten sie jetzt den Luftzug um sich herum spüren. Die Wände des Schachtes jagten immer rasanter an ihnen vorbei.
Melia stieß einen Schrei aus und ihr Gesicht verlor seine Farbe, denn sie befürchtete jetzt, dass der Mechanismus nicht mehr einwandfrei funktionierte und sie unkontrolliert zu Tode stürzen würden. Blitzschnell hechtete sie zu dem Hebel, doch der Versuch, ihn in die andere Richtung zu drücken, blieb ohne Erfolg. Ein panischer Blick zu dem Jungen zeigte ihr, dass dieser sichtlich Spaß an ihrer Talfahrt hatte und keinerlei Anstalten machte, ihr zu helfen.
„Chalek, hilf mir!“ rief sie deshalb. Entsetzt blickte sie nach oben, doch die Decke des Schachtes war schon nicht mehr als ein winziger Punkt über ihr. Innerlich begann sie sich zu verfluchen, weil sie so unvorsichtig gewesen war und machte schon ihr Testament, weil sie mit ihrem Tod rechnete. Da trat der Junge zu ihr und legte ihr mit einem breiten Grinsen die Hände auf die Schultern. Sie starrte ihn beinahe fassungslos an und wollte ihn schon zurechtweisen, dass es dieses Mal absolut keinen Grund für Frohsinn gab, als ihr auffiel, dass sie jetzt scheinbar nicht mehr schneller fielen. Ja, ganz eindeutig. Ihr Weg nach unten verlief noch immer in rasantem Tempo, doch es ging nicht mehr schneller abwärts, sondern die Geschwindigkeit blieb jetzt gleich.
Über den Rand in die Tiefe zu schauen traute sie sich freilich nicht, denn die Wände und die Treppe schossen so schnell an ihr vorbei, dass sie sich unweigerlich dabei selbst verletzt hätte.
Also blieb ihr nur die Hoffnung, dass ihre Fahrt irgendwann enden würde. Zufällig schaute sie dabei zu Boden und konnte dort ein kleines Loch in den Holzbohlen erkennen. Melia ließ sich auf die Knie sinken und spähte hindurch in die Tiefe, wo sie undeutlich erkennen konnte, wie der Boden des Schachtes aus scheinbar unendlicher Entfernung immer näherkam.
Plötzlich wurde ihre Fahrt abrupt langsamer und nur eine Sekunde später verharrte die Plattform reglos. Im ersten Moment registrierte Melia diesen Umstand gar nicht, dann erst wurde ihr bewusst, dass ihre Fahrt geendet hatte.
Mit einem lauten Stöhnen erhob sie sich. Bevor sie mit zittrigen Beinen von der Plattform stieg, schaute sie in die Höhe. Sofort war sie wieder entsetzt, dass die Decke des Schachtes kaum mehr auszumachen war. „Oh Mann!“ stieß sie hervor und musste kräftig durchatmen. Chalek schien weitaus weniger mitgenommen zu sein und grinste bereits wieder breit.
Sie stieg von der Plattform und war sofort sehr froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, wenngleich ihre eigene Unruhe den Felsen wirken ließ wie eine wabbelige Masse.
Chalek stützte sie und es dauerte ein paar Momente, bis sie sich wieder gefangen hatte.
Dann aber konnte sie erkennen, dass sich vor ihnen eine ähnliche Halle auftat, wie schon zu Beginn ihres Weges.
Am anderen Ende konnte sie erkennen, dass ein weiterer Gang davon abging. Da ihr bewusst war, dass sie hier ohnehin schon viel weiter vorgedrungen waren, als vertretbar war, entschloss sie sich, die Sache jetzt auch bis zum Ende durchzuziehen und schlich langsam und vorsichtig weiter.
„Hast du eine Ahnung, was das hier alles sein soll?“ fragte sie den Jungen, doch der schüttelte nur den Kopf.
Melia durchquerte die Halle und näherte sich dem Gang auf der anderen Seite. Nach einem kurzen Zögern setzte sie ihren Weg fort, während Chalek sich immer schräg hinter ihr hielt.
Sie hatten kaum zehn Meter zurückgelegt, als sich der Gang ausweitete und jetzt sicherlich gute fünf Meter breit war. Er blieb jedoch leer und führte einfach weiterhin in den Berg hinein.
Plötzlich war ein tiefes Grollen zu hören, doch noch bevor einer der beiden erkennen konnte, wo es herkam, begann auch schon der Boden zu beben.
Sogleich rieselte Staub von der Decke und kleinere Gesteinsbrocken brachen heraus. Instinktiv hechteten beide an die Felswand, um Halt zu finden.
Und dieses Mal sollten sie Glück haben. Obwohl das Beben länger und sogar etwas heftiger war, als das erste Beben an der Oberfläche, blieben sie davon verschont. Stattdessen aber brach aus dem Gang etwa zehn Meter hinter ihnen ein Teil der Seitenwand heraus und krachte mit lautem Getöse zu Boden. Melia erschrak und ihr Herzschlag beschleunigte sich wieder. Sofort danach war ein erneutes Grollen zu hören und nur wenige Meter vor ihnen schlug ein Teil der Decke zu Boden. Schließlich aber verstummte das Beben allmählich und es kehrte wieder Ruhe ein.
Als sie die Trümmer der Tunneldecke sah, wusste Melia, was sie zu tun hatten. Zwar hätten sie über sie hinwegkrabbeln und ihren Weg fortsetzen können, doch das war eindeutig viel zu gefährlich. „Okay, das wars!“ sagte sie mit einem bestimmenden Nicken. „Wir machen, dass wir hier wegkommen!“
Chalek widersprach ihr dieses Mal nicht. Melia wandte sich um und gemeinsam mit dem Jungen bahnte sie sich einen Weg um die Trümmer der Felswand herum, die fast dreiviertel der Gangbreite einnahmen.
Kaum hatten sie das geschafft, als der Boden nochmals für vielleicht zwei Sekunden erzitterte, was jedoch ohne Folgen blieb. Lediglich aus der ohnehin schon zerrissenen Felswand platzte nochmals ein größeres Stück heraus und fiel zu Boden.
Читать дальше