Wie bequem war sie doch zu ihrem neuerlichen Abenteuer aufgebrochen! Leider war diese Bequemlichkeit nur von kurzer Dauer gewesen. Es hatte sich herausgestellt, dass die Gleise noch nicht fertig verlegt worden waren. Obwohl man ihr ein Billet bis Chicago verkauft hatte, endete die Fahrt in dem komfortablen Zug bereits fünfundzwanzig Meilen vor der Stadt. Sie musste in eine Kutsche umsteigen. Seither ruckelte und zuckelte sie in unterschiedlichsten Gefährten über staubige Straßen. Lediglich unterbrochen von der Überfahrt mit der Fähre von Chicago nach Milwaukee.
Zu ihrem eigenen Erstaunen, hatte sie sich sehr schnell mit den Gepflogenheiten des Reisens vertraut gemacht und alle Herausforderungen des Umsteigens und der Quartiersuche souverän gemeistert. Keine Verzögerung, kein Achsbruch, kein Umweg, keine Zwangspause wegen unpassierbarer Wege hatte sie erschüttern können. Aber jetzt, nach so vielen Tagen auf der Straße, war sie mit ihrer Kraft und ihrer Geduld am Ende.
Vor einer halben Stunde hatten sie die Grenze nach Kanada passiert. Wenn man dem Kutscher Glauben schenken durfte, würden sie den Ort Cudeca gegen Mittag erreichen. Noch vor drei Tagen, wäre Agnes bei dieser Aussage vor Aufregung völlig aus dem Häuschen gewesen. Inzwischen würde sie erst glauben, dass sie tatsächlich angekommen war, wenn sie mit ihrer Reisetasche in der Hand auf dem Marktplatz von Cudeca stand.
Wenigstens saß sie allein in der Postkutsche. Ein Luxus, der ihr zum ersten Mal zuteil wurde, seit sie unterwegs war. Kein dicker, schwitzender, Tabak kauender Mann, der an ihre Schulter gelehnt schnarchte. Keine nach aufdringlichem Parfüm stinkende Frau, mit Federn am Hut, die ihr bei jedem Ruckeln der Kutsche über das Gesicht wischten. Kein plärrendes, sabberndes Kleinkind, das mit klebrigen Fingern nach ihren Haaren grabschte. Nein! Außer ihr wollte keine Menschenseele nach Cudeca.
Agnes öffnete die Augen und sah zum Fenster hinaus. Ganz allmählich hatte sich die Landschaft verändert. Das endlose Grasland war jetzt durchzogen von Büschen. Auch war es hier viel hügeliger als in der Gegend, die sie in den vergangenen Tagen durchquert hatten. Am Horizont erhob sich ein bewaldeter Bergzug, hinter dem im Dunst gezackte Berggipfel in den Himmel ragten. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Tatsächlich! Viele der Gipfel waren weiß! Aufgeregt streckte Agnes den Kopf zum Kutschenfenster hinaus. Zum ersten Mal seit vielen Tagen genoss sie den Ausblick.
Und wie aus dem Nichts war sie plötzlich da, die Vorfreude auf das was am Ende der Reise auf sie wartete. Die Bedenken und Ängste, die sie begleitet hatten, seit sie in New York in den Zug gestiegen war, verflogen. Die mittellose Magd, Wäscherin, Kellnerin Agnes Pangerl hatte sie Tausende Meilen hinter sich gelassen. Hier saß jetzt Agnes Mundl die Farmerfrau! Nie gekanntes Selbstbewusstsein durchströmte sie bei diesem Gedanken. Und ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem unbekannten Mann, der sie aus dem elenden Leben herausgeholt und zu seiner Ehefrau gemacht hatte. Sie würde ihm eine gute Frau sein. Es gab nichts, was sie nicht konnte. Auf dem Feld, im Stall, im Garten, im Haus würde sie hart arbeiten und ihn nach besten Kräften unterstützen. Wie es wohl aussehen mochte, ihr neues Zuhause? Ob es wohl Felder gab, auf denen sie Getreide anbauen würden? Oder Kartoffeln und Rüben? Vielleicht konnten sie ja sogar Flachs aussäen. Mit welchen Tieren Andreas Mundl wohl die Felder bestellte? Mit Ochsen oder mit Pferden? Wenn er Kühe oder Ziegen hielt, konnte sie Käse machen. Wuchsen Obstbäume auf der Farm, würde sie Marmelade einkochen oder die Früchte für den Winter dörren. Vielleicht gab es ja sogar einen Backofen. Dann konnte sie runde knusprige Brote backen.
Voller Begeisterung klatschte sie in die Hände. Oh nein! Andreas Mundl würde es nicht bereuen, sie geheiratet zu haben!
Mit einem Ruck kam die Kutsche zum Stehen. Agnes war eingenickt und rutschte von der Bank.
„Aua!“, schrie sie empört und rieb sich die schmerzenden Knie.
„Wir sind da Ma’am!“, rief der Kutscher fröhlich und riss die Tür auf.
„Wo sind wir?“, fragte Agnes benommen. Wurde sie abrupt aus dem Schlaf gerissen, dauerte es immer eine Weile, ehe ihr Verstand in Schwung kam.
„Na in Cudeca, wo denn sonst. Da wollten Sie doch hin, oder etwa nicht?“
Den breitkrempigen Hut in den Nacken geschoben, musterte der Kutscher die verwirrt dreinblickende Frau, die auf dem Boden seiner Kutsche hockte und keinerlei Anstalten machte aus zu steigen.
„Was machen Sie da unten?“, fragte er neugierig. „Haben Sie etwas verloren?“
Agnes rutschte auf dem Hintern zur Kutschentür, schob ihre Beine hinaus und stellte sich hin. Während sie ihren Rock zurechtrückte und glatt strich, sagte sie so würdevoll wie möglich:
„Nein ich habe nichts verloren. Aber danke der Nachfrage.“
Dann wurde ihr mit einem Schlag bewusst, dass sie tatsächlich am Ende ihrer Reise angekommen war. Dass es nicht mehr lange dauern würde, dann stünde sie ihrem Ehemann gegenüber. Während der Kutscher ihre Reisetasche aus dem Gepäcknetz auf der Rückseite der Kutsche holte, trat Agnes ein paar Schritte beiseite. Das also war Cudeca. Langsam drehte sie sich im Kreis. Kein Mensch war zu sehen. Der Ort schien völlig verlassen zu sein.
Agnes runzelte die Stirn. „Hier ist ja Keiner. Wo sind denn die Einwohner?“
Der Kutscher stellte die Reisetasche neben sie und holte seine Taschenuhr hervor. „Es ist Mittagszeit. Da sitzen die Leute beim Essen“, klärte er sie auf.
Agnes lachte. Natürlich. Im Böhmerwald war es genauso gewesen. Zwischen zwölf und ein Uhr hatte nie jemand gearbeitet. Sie hatte es nur beinahe schon vergessen. In Manhattan waren Tag und Nacht Menschen auf der Straße unterwegs gewesen.
Agnes bezahlte den Kutscher. Dabei fragte sie ihn noch nach der Kirche. Timothy Walsh hatte in seinem Brief an seinen Freund Father Gregory geschrieben, sie sollte sich nach ihrer Ankunft bei ihm melden. Er würde sie zu Andreas Mundl bringen. Der Kutscher deutete auf das nördliche Ende des Ortes. Dort machte die Straße eine Biegung. Hinter der Kurve würde sie die Kirche finden, erklärte er ihr. Dann stieg er auf den Bock. Zum Gruß tippte er an seinen Hut, schnalzte mit der Zunge und sein Gefährt setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Agnes wartete ein paar Augenblicke, bis sich der aufgewirbelte Staub verzogen hatte, dann nahm sie ihre Tasche und ging die Straße entlang in die beschriebene Richtung.
Einige Minuten später stand sie vor der kleinen, weiß gestrichenen Holzkirche. Während sie noch überlegte, wo sie den Pfarrer wohl finden würde, hörte sie es hinter der Kirche klappern. Als sie um die Ecke bog, sah sie einen Mann, der mit einer Hacke in der Hand eifrig Unkraut zwischen Bohnenpflanzen entfernte. Seine derbe graue Arbeitshose war dreckverschmiert, das gestreifte Hemd durchgeschwitzt. Der Strohhut war ausgefranst und sah aus, als hätte sich eine ganze Mäusefamilie daran gütlich getan.
„Guten Tag, Sir. Könnten Sie mir sagen, wo ich Father Timothy Walsh finde?“, fragte Agnes höflich.
Der Mann richtete sich auf. Neugierig musterte er die junge Frau. Er kannte jeden Einwohner von Cudeca und auch dreißig Meilen im Umkreis. Sie hatte er hier noch nie gesehen. Er lüpfte den Hut zur Begrüßung und wischte sich mit dem Hemdärmel den Schweiß von der Stirn. Dann stieg er vorsichtig über seine Bohnen und kam zu ihr.
„Guten Tag, Miss. Ich bin Father Timothy. Aber ich glaube nicht, dass wir uns kennen. Ein so reizendes Gesicht hätte ich bestimmt nicht vergessen.“
Agnes lächelte. Das war ja schon mal ein guter Anfang.
„Nein, wir kennen uns in der Tat noch nicht. Father Gregory O’Byrne hat mich an Sie verwiesen. Ich bin Mrs Agnes Mundl, die Ehefrau von Andreas Mundl.“
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