„Du würdest selbstverständlich erst aufbrechen, wenn du mit ihm verheiratet bist“, antwortete der Priester.
„Heißt das, er kommt her und ich lerne ihn kennen?“
„Nein. Es würde eine Ferntrauung geben.“
„Eine Ferntrauung? Was ist das?“ Agnes war verwirrt.
„Eine Ferntrauung ist eine Möglichkeit, dass zwei Menschen über eine große Entfernung hinweg heiraten können.“
„Und wie soll das gehen?“, fragte Agnes.
„Der Mann, er heißt übrigens Andreas Mundl, würde vor Father Timothy sein Ehegelübde ablegen und ein offizielles Dokument unterschreiben. Dieses Papier lege ich dir vor. Wenn du mit dem, was da steht einverstanden bist, legst du ebenfalls vor mir ein Eheversprechen ab und unterschreibst das Dokument auch. Damit seid ihr dann rechtskräftig vor dem Gesetz und vor Gott Mann und Frau. Wenn du mit diesem Dokument nach Cudeca fährst, kann dich Mr Mundl nicht wieder heimschicken.“
„Aber das ändert nichts daran, dass ich ihn nicht kenne. Er könnte ein unehrlicher Lump sein. Uralt, boshaft und gewalttätig. Ein arbeitsfauler Säufer, der nur eine billige Arbeitskraft braucht.“
Father Gregory konnte ihre Einwände nur zu gut verstehen. Häusliche Gewalt war auch in seiner Gemeinde an der Tagesordnung. Treue, hart arbeitende Frauen wurden oft genug von ihren betrunkenen Männern grün und blau geprügelt.
„Ich kann natürlich nur das weitergeben, was Timothy mir geschrieben hat. Aber er schildert Andreas Mundl als ordentlichen, ruhigen und sehr fleißigen Mann, der nur selten einen über den Durst trinkt. Da er selbst aus Böhmen kommt, soll seine Frau auch aus dieser Gegend stammen. Er ist 32 Jahre alt, schreibt Timothy. Also noch nicht uralt.“
Nachdenklich starrte Agnes auf ihre im Schoß gefalteten Hände. Das was Father Gregory da erzählte klang so unwirklich und irgendwie nicht richtig. Einen Mann zu heiraten, der tausende von Meilen entfernt war. Den man nie gesehen hatte. Von dem man nur das weiß, was ein anderer Mann geschrieben hatte, den man auch nicht kannte. Was für eine vollkommen verrückte Idee! Entschlossen stand Agnes auf.
„Danke, dass Sie an mich gedacht haben Father. Aber das ist nichts für mich. Ich bin mitten im tiefsten Winter bei Eiseskälte aus dem Fenster gestiegen, um den Nachstellungen des Bauern zu entkommen, für den ich gearbeitet habe. Ich wollte selbst über mein Leben bestimmen. Deshalb bin ich nach Amerika gekommen.“ Father Gregory erhob sich ebenfalls.
„Kannst du denn wirklich selbst über dein Leben bestimmen? Oder sagen dir nicht andere, was du zu tun hast? Leute wie Rosaria Tonelli oder die Chinesen in der Wäscherei oder die geldgierige Hauswirtin?“
Er streckte Agnes die Hand entgegen. „Gute Nacht. Schlaf gut! Und vielleicht denkst du ja noch einmal über diese Möglichkeit nach, aus dem Elend hier heraus zu kommen. Du weißt, wo du mich finden kannst.“
Agnes drehte sich auf die Seite. Die dünne löchrige Decke rutschte von ihrer Schulter. Obwohl sie hundemüde ins Bett gefallen war, wälzte sie sich schon seit Stunden hin und her. Eigentlich konnte sie es sich nicht erlauben, wach zu liegen. Nicht mehr lange und sie musste wieder aufstehen. Nur weil sie normalerweise schlief wie ein Murmeltier, hielt sie die Strapazen der Arbeit überhaupt durch. Aber heute wollte sich der Schlaf einfach nicht einstellen. Mit einem Seufzer stand sie auf, warf sich die Zudecke über die Schultern und trat an das kleine Fenster. Es war so schmutzig, dass man kaum hindurch sehen konnte. Aber Wasser war zu kostbar, um es zum Putzen zu verschwenden. Außerdem gab es draußen nichts zu sehen, außer der engen, stinkenden, verdreckten Gasse, die zwischen den Häusern zum Entsorgen der Abfälle diente. Nur wenn sie sich ganz weit hinausbeugte konnte sie oben einen schmalen Streifen Himmel erkennen.
Agnes seufzte. Gegen ihren Willen kreisten ihre Gedanken immer noch um das, was ihr Father Gregory vorgeschlagen hatte. Weder Mariele noch sie selbst hatten jemals vom Heiraten geredet. Das war in ihren Zukunftsplänen nicht vorgekommen. Wenn sie davon geträumt hatten, ihr Glück zu machen, waren sie immer davon ausgegangen, es aus eigener Kraft zu schaffen. Nie hatten Männer in ihren Plänen eine Rolle gespielt. Zu schlecht waren die Erfahrungen, die sie gemacht hatten. Der Klausner-Bauer und Marieles Vater waren weiß Gott Ehemänner der übelsten Sorte gewesen. Die Vorstellung an so einen Mann gebunden und ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, ließ Agnes erschauern. Natürlich hatte der Priester im fernen Kanada diesen Andreas Mundl in leuchtenden Farben geschildert. Aber was wusste ein unverheirateter katholischer Priester schon über die Ehe!
Was Father Gregory am Ende gesagt hatte, wollte und wollte ihr jedoch nicht aus dem Kopf gehen.
‚ Kannst du denn wirklich selbst über dein Leben bestimmen? Oder sagen dir nicht andere, was du zu tun hast? Leute wie Rosaria Tonelli oder die Chinesen in der Wäscherei oder die geldgierige Hauswirtin?‘
Leider hatte der Father damit vollkommen recht. Im Vergleich zu ihrem alten Leben im Böhmerwald hatte sich nichts geändert. Außer, dass sie noch mehr arbeiten musste und weniger zu essen hatte. Sie dachte an die Männer, die sie im Bordell ständig betatschten und an die Miete, die sie nicht bezahlen konnte. Agnes lehnte die Stirn an die gesprungene Fensterscheibe und schloss die Augen.
‚ Es gibt eine Möglichkeit, wie du auf einen Schlag alle deine Sorgen los wirst und dieses elende Dasein hinter dir lassen kannst.‘
Wieder schlichen sich Father Gregorys Worte in ihre Gedanken. Was, wenn er recht hatte? Wenn eine Eheschließung mit diesem Farmer tatsächlich das Ende ihrer Sorgen bedeuten würde? Wenn sie wirklich aus dieser Hölle hier heraus käme? Genau genommen konnte nichts schlimmer sein, als das Leben hier in Five Points.
Sie hatte nur eine vage Vorstellung wie Amerika außerhalb Manhattans aussah. Es musste unfassbar riesig sein, das wusste sie. Vom Hörensagen kannte sie Namen wie Philadelphia, Washington, Boston oder Chicago. Aber sie hätte nicht sagen können in welcher Himmelsrichtung diese Städte lagen. Ab und zu kamen Männer ins Hotel Rosaria , die vom Wilden Westen und Indianern erzählten. Jetzt bedauerte sie, dass sie sich nie um diese Prahlereien der Trunkenbolde gekümmert und genauer zugehört hatte.
Ruhelos begann sie in der kleinen Kammer hin und her zu wandern. Ach, wenn doch bloß Mariele noch da wäre! Sie hätte Rat gewusst! Sie hätte gewusst, was das Richtige wäre! Abrupt blieb Agnes stehen. Natürlich! Mariele hatte ihr ja schon längst gesagt, was sie tun sollte.
Hatte ihr nicht die Sterbende sogar ein Versprechen abgenommen?
‚ Du musst das Glück festhalten wenn es dir begegnet‘ !
Mit einem Schlag fielen alle Sorgen von Agnes ab und eine unsagbare Erleichterung erfüllte sie. Jetzt wusste sie, was sie tun musste! Sie würde ihr Herz in beide Hände nehmen und den Sprung ins eiskalte Wasser wagen. Gleich morgen wollte sie auf dem Weg von der Wäscherei zum Bordell bei Father Gregory vorbei gehen. Sie würde ihm sagen, dass sie den unbekannten Mann heiraten wollte, der sich so verzweifelt eine Ehefrau aus dem Böhmerwald wünschte. Dankbar dachte sie an Mariele, die ihr selbst aus dem Grab heraus noch zur Seite stand.
„Ich werde für dich mit glücklich sein“, flüsterte sie in die Dunkelheit hinein.
Was auf diesen Entschluss folgte, war ein Strudel von Ereignissen, der sich schneller und schneller drehte und Agnes einfach mit riss.
Father Gregory hatte ihr nicht erzählt, dass ihm das Dokument über die Eheschließung bereits vorlag. Sein Freund Father Timothy Walsh hatte ihm das von Mr Mundl unterschriebene Papier in seinem Brief mitgeschickt. Als sie den Priester besuchte um ihm ihre Zustimmung zur Eheschließung mit dem unbekannten Farmer mitzuteilen, holte er das Dokument aus der Schublade.
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