Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sie umgehend das Ehegelübde ablegen und es durch ihre Unterschrift bekräftigen müssen. Das ging ihr dann aber doch zu schnell. So trafen sie sich drei Tage später. Es war Sonntagabend und das Bordell hatte geschlossen. Gemeinsam lasen sie das Dokument durch. Father Gregory erklärte ihr die Stellen, die sie nicht verstand.
Mit ihrer Unterschrift, so stand auf dem Papier, würde sie die rechtmäßige Ehefrau von Andreas Mundl werden. Er war 32 Jahre alt und gebürtig aus dem böhmischen Ort Spitzberg. Seine Farm lag sieben Meilen außerhalb des Ortes Cudeca in Kanada. Zur amerikanischen Grenze waren es dreißig Meilen. Mit ihrer Unterschrift würde sie seine Frau und hätte damit keine Probleme über die Grenze zu kommen. Der Mann schien wirklich verzweifelt zu sein. Er hatte in dem Dokument bereits festgelegt, dass seine Ehefrau Miteigentümerin der Farm werden sollte und nach seinem Tod Alleinerbin. Das hatte er unterschrieben, ohne zu wissen, was seine Zukünftige für eine Frau sein würde. An Vertrauen mangelte es ihm ganz offensichtlich nicht.
Als Agnes die Feder in die Tinte tauchte, zitterte ihre Hand so sehr, dass nicht nur ihr Name das Dokument zierte, sondern auch ein dicker Tintenklecks. Father Gregory unterschrieb als Zeuge ebenfalls und bekräftigte die beiden Unterschriften schließlich noch mit dem Siegel der St. Anthony Church. Anschließend gingen sie in die Kirche. Vor dem Altar stehend, versprach Agnes Treue und Gehorsam bis zum Tod. Einem Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Father Gregory erklärte sie zu Mann und Frau und Agnes Pangerl gab es nicht mehr. Nun war sie Agnes Mundl. Eine Anweisung über einhundert Dollar, lautend auf Mrs Mundl , hatte ihr Ehemann ebenfalls mitgeschickt. Die Anweisung konnte bei der Wells Fargo Bank eingelöst werden. Das Geld sollte sie für ‚ ihre Auslagen ‘ verwenden. So hatte Andreas Mundl geschrieben.
Am nächsten Tag kündigte sie morgens ihre Arbeit in der Wäscherei. Die einzige Reaktion des Besitzers war ein leichtes Kopfnicken. Es war kein Problem sie zu ersetzen. Draußen vor seiner Tür standen Arbeit suchende Frauen Schlange. Danach ging sie zur Bank um die Anweisung einzulösen. Obwohl Father Gregory sie begleitete und sie die gesiegelte Heiratsurkunde dabei hatte, klopfte ihr das Herz bis zum Hals, als sie den Auszahlungszettel mit Mrs Agnes Mundl unterschrieb. Aber es gab keinerlei Probleme. Ihre Hand zitterte, als sie die Scheine in Empfang nahm. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel Geld auf einem Haufen gesehen. Einhundert Dollar! Ein Vermögen! Und es gehörte ihr!
Ihr nächster Weg führte sie zum gerade erst eröffneten Grand Central Depot. Dort starteten die Züge der New York Central Railroad, die dem legendären Cornelius Vanderbilt gehörte. Selbst Agnes hatte schon von dem unermesslich reichen Eisenbahn Tycoon gehört, dessen ebenso rücksichtslose wie erfolgreiche Geschäftsgebaren alle kleinen Gauner in Five Points nachahmten. Am Fahrkartenschalter erlebte Agnes den ersten herben Rückschlag auf ihrem Weg in ein neues Leben. Sie konnte nur ein Billet bis Chicago erwerben. Weiter ging die Bahnlinie noch nicht. Allerdings gab es die Möglichkeit von Chicago aus mit der Fähre über den Michigansee nach Milwaukee zu fahren. Der Mann am Schalter gab ihr den Rat, für die Weiterreise ab Milwaukee bei Wells Fargo nachzufragen. Die Gesellschaft unterhielt ein riesiges Netz von Postkutschenlinien, die beinahe jeden Ort jenseits der Großen Seen und des Mississippi anfuhren. Also ging sie wieder zurück in die Wells Fargo Bank. Dort erfuhr sie, dass es in Milwaukee tatsächlich eine Wells Fargo Niederlassung gab. Sie würde also auf jeden Fall mit einer Postkutsche weiterfahren können.
Nun blieb nichts mehr weiter zu tun, als bei Rosaria Tonelli zu kündigen und ihre wenigen Habseligkeiten zu packen. Als sie im Büro der Puffmutter stand und ihr sagte, dass sie nicht mehr im Hotel Rosaria arbeiten konnte, weil sie einen Farmer in Kanada per Ferntrauung geheiratet hatte, erlebte sie La Rosaria zum ersten Mal sprachlos. Mit offenem Mund starrte sie Agnes an. Schließlich atmete sie tief ein und zu Agnes‘ Überraschung hoben sich La Rosarias Mundwinkel zu einem feinen Lächeln.
„Fast bin ich ein wenig neidisch auf dich“, sagte sie leise. „Hätte sich mir vor zwanzig Jahren so eine Gelegenheit geboten, sähe mein Leben heute vielleicht anders aus.“ Sie erhob sich, kam um den Schreibtisch herum und streckte Agnes beide Hände entgegen.
„Ich beglückwünsche dich zu deinem Mut. Du bist eine wirklich tapfere Frau. Und wenn dein unbekannter Ehemann ein Schwein ist, zögere nicht, dich zur Wehr zu setzen. Du wirst jederzeit auch ohne Mann dein Leben meistern.“
Rosaria Tonelli küsste Agnes auf beide Wangen. Und sie hätte schwören können, dass die Augen der hartgesottenen Puffmutter feucht glänzten. Dann bat sie Agnes noch kurz zu warten und verschwand in ihrem Privatsalon. Mit einer eleganten ledernen Reisetasche kam sie wieder zurück.
„Was würde es denn bei deinem Mann für einen Eindruck hinterlassen, wenn du mit einem schäbigen Stoffbündel auftauchen würdest.“
Sie drückte Agnes die Tasche in die Hand, ging zurück an ihren Schreibtisch und beugte sich wieder über ihre Bücher.
„Danke“, murmelte Agnes.
Als sie die Bürotür hinter sich zuzog, war auch dieses Kapitel ihres Lebens beendet. In ihrem schäbigen Quartier öffnete Agnes die neue Tasche um ihre wenigen Habseligkeiten darin zu verstauen. Zu ihrer Überraschung war sie nicht leer. La Rosaria hatte das Kleid hineingepackt, das Agnes im Bordell immer getragen hatte. Die Netzstrümpfe und die Schnürstiefel waren ebenfalls in der Tasche. In einem der Stiefel steckte ein Zettel.
‚ Für den Fall, dass es mit dem Farmer nicht klappt! Viel Glück!‘
Wer hätte das gedacht. Da hatte die knallharte Geschäftsfrau doch tatsächlich auch eine weiche Seite. Leise vor sich hin summend packte Agnes ihre Sachen. Es waren nicht viele. Nur die wenigen Dinge, die sie aus dem Böhmerwald mitgebracht hatte. Zusätzlich noch die beiden einfachen Arbeitskleider von Mariele. Hinter dem Ziegelstein unter dem Bett holte sie die Ersparnisse heraus. Zwölf Dollar waren ihr geblieben. Zwölf Dollar für ein Jahr Schufterei! Ganz egal, was in Kanada auf sie wartete, es konnte nicht schlimmer sein, als das Leben hier in Five Points.
Pünktlich um halb sieben Uhr stand sie am nächsten Morgen vor der St. Anthony Church. Father Gregory kam gerade zum Kirchenportal heraus. Er wollte sie zum Grand Central Depot begleiten.
„Guten Morgen! Und? Aufgeregt?“, fragte er.
„Guten Morgen Father. Das kann man wohl sagen. Als wir im Böhmerwald losgezogen sind, hatte ich bei Weitem nicht so viel Angst. Aber da war ich auch nicht allein. Mariele war bei mir.“
„Glaub mir, sie ist auch heute noch da. Ich bin sicher sie schaut vom Himmel auf dich herunter und ist mächtig stolz auf dich.“
„Ach Father! Hoffentlich geht Alles gut! Hoffentlich ist er ein guter Mann“, seufzte Agnes.
„Timothy Walsh ist ein guter Menschenkenner. Wenn er deinen Mann für einen anständigen Kerl hält, dann ist er das auch“, sagte Father Gregory.
Er tätschelte ihr beruhigend den Arm und griff nach der Reisetasche.
„Können wir?“, fragte er.
Agnes atmete tief ein. Dann straffte sie die Schultern und nickte.
„Ich bin bereit.“
Nebeneinander gingen sie die Anthony Street entlang zum Bahnhof.
Agnes schloss die Augen und lehnte den Kopf zur Seite. Mit einem Ruck fuhr die Kutsche los. Ihre Schläfe schlug gegen den hölzernen Rahmen des Fensters. Aber Agnes spürte es nicht. Bleierne Müdigkeit hatte sie in eine gnädige Lethargie versetzt. Sie hörte und fühlte nichts mehr. Eine halbe Ewigkeit schaukelte sie nun schon kreuz und quer durch das Land. Die entsetzliche Reise schien kein Ende nehmen zu wollen. Wenn sie morgens vollkommen gerädert auf irgendeiner Pritsche in irgendeiner Poststation aufwachte, war sie sicher, dass sie dazu verdammt war sich bis ans Ende ihrer Tage in irgendeiner Kutsche durchrütteln zu lassen. Ihr Körper war übersät mit blauen Flecken und der Staub, der durch die offenen Fenster ins Wageninnere gelangte, hatte sich in jeder Faser ihrer Kleidung und in jeder Pore ihres Körpers festgesetzt. Er war in ihren Augen, in ihren Ohren und in ihrer Nase. Und er knirschte zwischen den Zähnen.
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