Nicole griff nach der Flasche, die im Gepäcknetz über ihren Füßen verstaut war. Sie schraubte sie auf und goss nach. Als sie den gläsernen Hals meinem Glas näherte, hob ich abwehrend die Hand: Ich habe genug. Von allem. Vom Fusel ebenso wie von deinen Lügen.
Hast du auch genug Geld? Nicole nippte und ließ den Whiskey geräuschvoll zwischen ihren Zähnen kaskadieren, Ich meine, reden wir Tacheles. Was hat dein Büchlein denn schon gebracht? Ihr Jungautoren nagt doch am Hungertuch, mehr oder weniger, gib es ruhig zu. Acht Prozent vom Verkaufspreis! Beim nächsten Werk dann vielleicht zehn. Dreißig Prozent davon gehen an deinen Agenten. Wieviel hast du verkauft? Zweihunderttausend? Dreihundert? Nicht schlecht. Aber reicht das zum Leben? In einer Stadt wie New York? Vermutlich hast du noch nicht mal den Vorschuss wieder raus. Mit Glück wird dein nächster Wurf ein Hit. Hollywood kauft die Rechte. Aber wenn du Pech hast, wird es ein Flop. Dann bist du weg vom Fenster wie deine Video–Boys. Fährst Taxi, übersetzt weiter deutschen Schund fürs Goethe Institut oder unterrichtest Träumer wie dich in fucking Creative Writing. Typen, die du anguckst und denkst: Du schaffst es eh nie. Die wiederum sagen sich, während sie tun als hingen sie an deinen Lippen: Was willst du Arschloch denn? Hättest du einen Plan von Büchern, würdest du welche schreiben statt hier dumm rumzulabern.
Nicole beugte sich nach vorn, hielt die Gläser fest, klappte den Tisch hoch und zückte erneut ihr Tablet, Ich biete dir eine Zukunft in finanzieller Unabhängigkeit. Ohne Geldsorgen. Du musst nur machen, was ich dir sage. Wie hört sich das an? Leben, wo du willst. Schreiben, was dir passt. Was sagst du?
Auf dem Bildschirm leuchtete eine Seite auf. TESTAMENT war sie überschrieben, und dann: Mein letzter Wille. Vor einer Linie, die freigeblieben und schwarz war, gezogen knapp unterhalb der Schrifthöhe, las ich: Ich, Nicole Fischer, geboren als Nicolaus Johannes Benjamin Fischer, zu Schlierbach bei Heidelberg am 13. Februar 1956 ordne hiermit an, dass mein gesamtes Vermögen an … Nicole zog einen Smartpen und setzte ihn an, knapp oberhalb des leeren Feldes über der Linie, Gutierrez mit einem R oder mit zwei? Und der Akzent auf dem ersten E? Ich bin kein Bill Gates. Aber das eine oder andere kam mit den Jahren zusammen. Ich besitze ein Hotel auf einer griechischen Insel. Und eine Immobilie in Hamburg. Nicht ganz City-Lage, aber das Betten-Geschäft parterre geht gut. Zusammen mit etwas Erspartem und einem Bausparvertrag hier plus einer Lebensversicherung da beläuft sich mein Vermögen auf roundabout acht Millionen. Ich brauche sie nicht mehr. Ich brauche Frieden für meine Seele – und da kommst du ins Spiel.
Nicole schrieb meinen Namen mit dem Smartpen, der ihre zittrige, kaum lesbare Handschrift unverzüglich in serifenfreie Druckbuchstaben umwandelte. Miguel Calderón Gutiérrez stand da nun als Begünstigter ihres Vermächtnisses. Sogar meinen zweiten Vornamen hatte sie recherchiert, Ich schicke das dem Notar, sobald wir Netz haben. Zusammen mit dem Vertrag. Sie wischte über die glatte Fläche, und unser Flugzeug-Winkel wurde vom Weiß eines neuen Dokuments beschienen. Es war ein Vertrag, abgefasst in einer Schrift, die ich nicht lesen konnte. Nicole erklärte: Costa, mein Notar ist Grieche. Er hat das für mich aufgesetzt. Ich will dir sagen, worum es geht. Du verpflichtest dich zu Folgendem: Dieser Flug nach Frankfurt geht, wie du weißt, über London. Du steigst in Heathrow aus. Statt deinen Weiterflug nach Deutschland zu nehmen, fährst du erstmal mit dem Taxi in die Bond Street zu Hill & Sons. An Bord dieses Flugzeugs ist ein Koffer. Den nimmst du mit. In einer Seitentasche dieses Koffers findest du ein kleines Buch. Es ist eine recht kostbare Originalausgabe der Minima Moralia von Adorno. Zwischen den Seiten des Aphorismus’ Sur l’eau findest du einen Abholschein und eine Quittung. Damit holst du eine Violine ab, die ich ersteigert und vom besten Geigenbauer Londons, ja vermutlich der Welt habe wiederaufbereiten lassen. Mit dieser Geige und dem Koffer fliegst du nach Berlin. Dein Flug nach Brandenburg BER geht noch am selben Abend. Vom Willy Brand Airport zur Innenstadt nimmst du den Shuttle, das geht am schnellsten. In Charlottenburg findet am nächsten Morgen die Bat Mizwah von Taras Enkelin statt. Die Geige ist ein Geschenk. Die Mutter der Kleinen hat sich von ihrem Mann getrennt und ist auf Männer derzeit schlecht zu sprechen. Dennoch – eine echte Guarneri del Gesú sollte Vertrauen aufbauen. Melanie jedenfalls ist die einzige, die dir Taras Aufenthaltsort verraten kann. Ich habe alles versucht, keine Chance. Wo immer sie auch steckt, wo immer sie sich zum Sterben zurückgezogen hat – flieg hin und rede mit ihr. Verlier keine Zeit. Bring ihr den Koffer und gib ihr seinen Inhalt.
Was ist da drin?
Ein Wasserbett. Das Wasserbett, das sie uns seinerzeit zur Hochzeit geschenkt hat. Das sollte reichen, damit sie dir erzählt. Aus ihrer Geschichte machst du ein Buch.
Was für ein Unsinn! Wasserbett! Geige! Koffer! London! Berlin! Völliger Quatsch. Woher soll ich wissen, dass das funktioniert? Wer soll das glauben?
Hör dir meine Geschichte an. Dann glaubst du es nicht nur, dann weißt du es.
Warum machst du es nicht selbst?
Was mich betrifft – ich habe andere Pläne. Gleich wenn wir landen, geht es los. Aber den Koffer, den hole ich für dich noch vom Gepäckband.
Nicole goss sich einen Schluck Macallan ein und spülte damit ihre maroden Zähne. Geräuschvoll passierte der Schnaps ihre Gurgel. Er ließ den Adamsapfel unter ihrem gebräunten, faltigen Hals hüpfen. Düster starrte die alte Dame geradeaus.
Jetzt war ich dran. Aber ich schwieg. Acht Millionen Euro war eine Perspektive, mit der man leben konnte. Buchstäblich. Immer hatte ich gehofft, ich würde es mit der Schreiberei zu Geld bringen. Sicher sein konnte ich nicht. Wer weiß schon, was die Leute lesen wollen? Der Weg zu Ruhm und Reichtum konnte langwierig und steinig werden. Was war einzuwenden gegen eine sauber asphaltierte Abkürzung? Trotzdem konnte ich mich nicht dazu durchringen, die mir dargebotene Hand zu nehmen und zu schütteln. Doch dann geschah etwas, das alles änderte. Ein unvorhergesehenes Detail, das mein Leben neu aufstellte und das auch mir das Gefühl gab, die Begegnung zwischen Nicole und mir habe der Himmel eingefädelt.
Du willst nicht, konstatierte sie, nachdem ihre welke Hand fast eine Minute drohnengleich im Luftraum über unserer Sitzgrenze geschwebt hatte. Wieder sah es aus, als wären ihre Kontaktlinsen verrutscht. Ihre Stimme klang brüchig.
Es tut mir leid, sagte ich und berührte ihre Schulter, Ich will es selbst schaffen. Das alles wäre ein zu großes Geschenk. Aber wenn es dir wichtig ist, dann erzähle mir die Geschichte. Ein Flug über den Atlantik kann öde sein, und etwas Abwechslung täte mir gut. Schlafen kann ich nach all dem Macallan nicht. Also. Wenn du was loswerden willst – nur zu! Nimm mich als Beichtvater. Oder Beichtsohn.
Loswerden? Wohl kaum …
Nicole schob unsere Becher ineinander und steckte sie in das Gepäcknetz über ihren Füßen. Sie streifte die Pumps ab, massierte sich die Zehen und brachte nun auch ihren Sitz in die Position, die dem Liegen am nächsten kam. Sie drehte den Kopf von mir weg und schloss die Augen.
Hey, alte Dame. Nichts für ungut. Nicht böse sein, ich wollte dich nicht verletzen.
Schon gut, knarzte Nicole im Halbschlaf, Dulces sueños, pendejo.
Hey – Nic, lass uns aufs Klo gehen. Ich zeig dir, ob ich beschnitten bin oder nicht.
Haha. Lass gut sein. Das habe ich nur gesagt, um dich wach zu rütteln. Damit du aus deiner spießigen Millenial-Borniertheit herauskommst. Ich will dein Ding nicht sehen. Was soll ich damit. Ob du beschnitten bist oder nicht, geht nur dich was an. Und Gott. Da würde ich mich aber nicht zu sehr drauf verlassen. Gute Nacht.
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