»Ghornt!« Loirach trat aus dem Schatten einiger Büsche heraus. Mit wenigen Schritten war er neben Dilga.
Die Pforte knirschte, als der Graue sie öffnete. Loirachs Hand legte sich auf Dilgas Bauch und schob ihn hinter sich. »Dilga ist mein Gast!«
Der Graue antwortete in der Sprache der Satyr, aber diesmal klang sie nicht melodisch. Stattdessen war sie voller harter Laute und begleitet von einem feindseligen Zischen. »Er ist ein Mensch!« Ghornt wechselte wieder in die gemeinsame Sprache. »Du hättest ihn nicht her bringen sollen, Loirach. Das war falsch! Sie hat dich mit ihrem Gerede verwirrt.«
Geschockt wanderte sein Blick zwischen den beiden Satyr hin und her. Es war unschwer zu sehen, dass der Graue ihn am liebsten in Stücke reißen würde. Den Ausdruck in Loirachs Augen konnte er nicht deuten.
»Ich bitte dich, Ghornt.«
Loirachs Stimme verriet ihm, dass es zwischen den beiden Giganten ein tiefes und starkes emotionales Band gab.
»Dieser Mensch ist mein Freund!«
Diese Worte bewirkten eine Veränderung bei dem Grauen. Die Wut in den funkelnden Augen wich Unglauben. »Wie kannst du…«, seine Stimme brach. »Hast du sie vergessen?«
»Nein!«
Der Zorn in Loirachs Stimme erschreckte Dilga fast mehr als der Hass des Grauen. Jetzt benutzte auch Loirach die Sprache der Satyr. Auch wenn er die Worte nicht verstand, hörte er wie aufgebracht sein Freund war. Der Graue trat ganz durch das Gartentor und legte Loirach eine Hand auf den Arm. Loirach schüttelte sie ab. So aufgewühlt hatte Dilga ihn noch nie erlebt. Hilflos stand Dilga da. Er wusste nicht, was er tun sollte. Wollte aber auf keinen Fall, dass diese beiden seinetwegen aneinander gerieten. »Loirach…!«
»Geh ins Haus, Dilga!«
Loirachs Stimme duldete keinen Widerspruch. Verstört lief er zum Haus zurück.
*
»Mach dir keine Sorgen.« Zzghu-Nha führte Dilga wieder in das kleine Zimmer mit den Sitzkissen. »Loirach und Ghornt sind alte Freunde.«
Das beruhigte ihn nur wenig. Er hatte Loirach noch nie zuvor wütend gesehen.
»Setz dich, ich bringe dir einen Tee.«
Zzghu-Nha ging, ehe er ablehnen konnte. Dilga setzte sich auf eines der Kissen und überlegte, womit er Loirachs Nachbarn verärgert hatte. Irgendwie hing das mit dem Brunnen zusammen. Es war kaum vorstellbar, dass es Menschen gewagt haben sollten, in die Stadt einzudringen und einen Satyr in seinem eigenen zu Haus zu überfallen. Oder doch? Vielleicht beruhte seine Abneigung auf einem Erlebnis mit einem der Menschen, die hier bei ihnen lebten. Barton hatte gesagt, dass viele von denen, die man den Satyr opferte, Verbrecher waren. Und von was für einer »Sie« war die Rede gewesen?
Zzghu-Nha erschien in der Tür mit dem Tee und unterbrach seine Gedanken. Sie, er wusste mittlerweile, dass sie ein Mädchen war, versuchte beruhigend zu Lächeln, als sie ihm eine Tasse einschenkte.
»Hasst Ghornt alle Menschen, oder habe ich einen Fehler gemacht?«
Mit einem Tuch wischte Zzghu-Nha sorgfältig die Tülle der Teekanne ab, um ein Nachtropfen zu vermeiden. »Er hasst die Menschen, die außerhalb unserer Gemeinschaft leben.«
»Warum?«
»Ihm wurde von Menschen Schlimmes angetan«, antwortete sie bedächtig. »Bitte verstehe, wenn ich nicht darüber rede. Ich weiß es selbst nur vom Hörensagen.« Zzghu-Nha nahm das leere Tablett und zog sich zur Tür zurück.
Er ließ sie gehen. Vielleicht hatte Loirach sein Personal angewiesen, seinen Erklärungen nicht vorzugreifen. Also würde er sich in Geduld üben. Loirach ließ nicht lange auf sich warten. Bald nachdem Zzghu-Nha ihn allein gelassen hatte, tauchte er auf.
»Es tut mir leid, wenn Ghornt dich erschreckt hat«, leitete er übergangslos ein. »Ich hätte dich vor ihm warnen sollen.«
»Warum hasst er Menschen so sehr?«, brach es aus Dilga heraus. Er dachte daran, wie sehr sich Menschen vor den Satyr fürchteten. Menschen hassten, was ihnen Angst machte. Aber es war schwer vorstellbar, dass dieser riesige graue Satyr sich genauso vor Menschen fürchtete, wie diese vor ihm.
»Er hat Grund dazu«, antwortete Loirach ausweichend.
Dilga entging das kurze Aufwallen von Schmerz in Loirachs Augen nicht. Was immer mit Ghornt geschehen war, betraf auch ihn.
»Ich möchte nicht, dass du meinetwegen Streit mit ihm hast«, sagte Dilga betroffen.
Loirach sah in an und lächelte. »Du bist wirklich ungewöhnlich, Mensch. Aber mach dir keine Gedanken. Ghornt ist mein Mentor. Wir haben unsere Differenzen, aber das entzweit uns nicht.«
Der Zorn des Grauen hatte auf ihn nach mehr als nur Differenzen gewirkt, aber er schwieg.
»Du hast mich einmal gefragt, ob alle Satyr die gemeinsame Sprache verstehen…«, fuhr Loirach unvermittelt fort. »Die Antwort ist ja, denn wir haben sie euch beigebracht.«
Dilga brauchte einen Moment um das Gehörte zu begreifen.
»Die Satyr waren einst Lehrer der Menschen«, setzte Loirach seine Erklärung fort. Seit den ersten Tagen, als Menschen in das Reich der Satyr gekommen waren. Damals waren die Menschen noch wild und unzivilisiert gewesen. Tatsächlich waren die Ersten von ihnen Flüchtlinge, die vor einer grausamen Horde Eroberer flohen. Die Satyr gewährten den Fliehenden Asyl und nahmen sich ihrer an. Sie unterrichteten diese Menschen in Kunst, Schrift und Sprache und eine Zeitlang lebten Menschen und Satyr eng zusammen.
Irgendwann zogen die Menschen sich aus den Bergen der Satyr zurück und gründeten ihre eigenen Reiche, aber man unterhielt weiter freundschaftliche Kontakte miteinander. Viele Wissenschaftler der Menschen studierten über Jahre bei den Satyr.
Aber dann begannen die Völker der Menschen sich zu vermehren. Ihre eigenen Gebiete wurden ihnen zu eng und sie führten Krieg gegeneinander, um Nahrung und Besitz. Eine Weile blieben die Satyr von den Kriegen unberührt, bis einige Menschen entdeckten, dass es in ihren Bergen Reichtümer gab. Gold und Erze. Sie fielen in die Gebiete der Satyr ein. Es gab einen fürchterlichen Krieg, den die Menschen verloren. Verträge wurden geschlossen und von den Menschen gebrochen. Eine Weile wiederholte sich das und schließlich zogen die Satyr sich zurück und gestatteten keinem Menschen mehr ihr Land zu betreten. Dass Menschen und Satyr einst zusammengelebt hatten und dass die Menschen ihnen viel verdankten, geriet immer mehr in Vergessenheit.
»Und so wurden aus den Lehrern von einst Monster, die man mit Menschenopfern ruhig halten muss«, schloss Loirach seine Erzählung.
Dilga wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Loirachs Geschichte hatte ihn vollkommen erschlagen.
*
Den folgenden Vormittag verbrachte er damit, unter Zzghu-Nhas Führung Loirachs Haus zu erkunden. Der weitaus größte Teil der Villa war in den Berg hineingebaut. Im vorderen Teil befanden sich nur die Gästezimmer, der Speiseraum und ein Audienzsaal. Die Wirtschaftsräume, Loirachs Arbeitszimmer, seine Bibliothek und sogar das Bad, waren tief im Inneren des Felsens. Trotzdem wurden alle Zimmer hell vom Licht der Sonne erleuchtet. Zzghu-Nha lüftete das Geheimnis für ihn. Das Sonnenlicht wurde durch ein Gewirr aus Lichtschächten und Spiegeln ins Haus gelenkt.
»Nicht hineinsehen«, warnte sie und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Du könntest böse geblendet werden.«
Dilga starrte das Loch in der Decke an. Zu gern hätte er den Schacht näher in Augenschein genommen.
»Ist es möglich bei Nacht durch die Schächte ins Haus einzudringen?«
Zzghu-Nha schüttelte den Kopf. »Nein. Auf den glatten Oberflächen der Spiegel findet man keinen Halt und es gibt Fangnetze. Hauptsächlich wegen der Vögel.«
Er fragte sich, wie lange es gedauert haben mochte, diesen Palast zu bauen. Die Lichtschächte waren nicht das einzige, was ihn staunen ließ. In der Küche und im Baderaum gab es fließendes Wasser, das über einen Aquädukt von den Bergen herunter kam. Ein weiterer, unterirdisch verlaufender Aquädukt, leitete verschmutztes Wasser zurück in den Berg, wo es in Spalten versickerte.
Читать дальше