»Entschuldige, Mensch.« Loirach wischte sich eine Lachträne aus dem Auge. »Ich werde dir alles erklären und dir etwas zeigen. Hab ein wenig Geduld.«
Was blieb ihm anderes übrig? Dilga gähnte herzhaft. Der Tag war lang gewesen und das schmackhafte Essen hatte ihn müde gemacht. Der Satyr holte ein weiteres Bündel aus dem Erdloch und wickelte zwei Decken aus.
»Schiebe dir ein paar von den Kissen zusammen und leg dich schlafen.« Mit den Worten reichte Loirach ihm eine der Decken.
Er nahm sie, ohne sich jedoch zu rühren. Zwei Decken, zwei Becher, schoss es ihm durch den Kopf.
»Was ist?« Der Satyr entrollte seine Decke und schob sich ein Kissen als Kopfkissen hin. Mit dem Körper legte er sich auf den kahlen Boden.
»Nicht dein Heim und von allem ist genug vorhanden für uns beide«, stellte Dilga fest.
»Du hast mich erwischt, Mensch.« Der Satyr setzte sich wieder auf. »Sitah hat deinen Namen gehört und nachdem ich mich versichert habe, dass du der Mensch bist, der mir entkommen ist, habe ich meine Vorbereitungen getroffen.«
»Warum?« Sein Herz schlug schneller. Überdeutlich war ihm die Hilflosigkeit seiner Lage bewusst.
»Tut mir leid, Dilga. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben.« Loirach stand auf und nahm Dilgas Waffen von der Wand. »Hier!« Er hielt sie ihm hin. »Du bist mein Gast. Kein Gefangener!«
»Dann könnte ich gehen, wenn ich wollte?« Dilga rührte die Waffen nicht an.
»Nein«, seufzte Loirach. »Das heißt, nicht sofort. Ich werde dir etwas zeigen. Wenn du dann noch gehen willst, lass ich dich ziehen.«
Loirach sah ihn offen an. Dilga entdeckte keine Falschheit in seinem Blick und keine Tücke. Warum auch? Loirach hatte alle Trümpfe auf seiner Seite. Er nahm seinen Waffengürtel und das Messer und legte beides auf den Boden. Dann schob er sich ein paar Kissen zusammen, zog das Kettenhemd und seine Stiefel aus und wickelte sich in die Decke.
*
Blumiger Duft weckte ihn. Dilga öffnete die Augen und setzte sich auf. Loirach hatte den Tisch für ein einfaches Frühstück gedeckt und schöpfte heißen Tee aus dem Kessel in die Becher.
»Guten Morgen, Mensch!«
Dilga faltete die Decke zusammen und schob eines des Kissen, die ihm als Bett gedient hatten, ans Feuer. »Morgen!« Er streckte sich genüsslich und inspizierte das Frühstück. Es bestand aus den Resten, die am vergangenen Abend übrig geblieben waren.
»Du hast einen gesunden Schlaf«, meinte der Satyr.
»Nur wenn ich in Sicherheit bin.« Er nahm einen der Becher und trank einen Schluck.
»Freut mich, dass du anfängst mir zu vertrauen.«
Er antwortete Loirach nicht darauf. Da ihm ohnehin keine Wahl blieb, hatte er beschlossen, das Beste aus der Situation zu machen. Eine Weile aßen sie schweigend. Das Brot schmeckte immer noch frisch und der Tee machte ihn richtig wach.
»Lebst du allein?« Er hatte versucht sich vorzustellen, wie Loirachs Heim wohl aussah, dabei war ihm der Gedanke gekommen, dass der Satyr vielleicht eine Familie hatte.
Loirach zögerte kurz mit der Antwort, dann sagte er: »Lass dich überraschen.«
Fürchtete der Satyr, dass ihm die Antwort nicht gefiel? Dilga wusste es nicht, aber es spielte auch keine Rolle. Er beendete sein Frühstück und zog das Kettenhemd wieder über. Der Satyr erhob keine Einwände. Auch nicht dagegen, dass er sich mit dem Schwert gürtete.
Loirach räumte die Felskammer auf, erst dann schob er den Findling beiseite. Graues Tageslicht fiel herein. Die Sonne war noch nicht richtig aufgegangen. Dilga trat ins Freie und fröstelte. Zu dumm, dass er keine Zeit gehabt hatte, seinen Umhang mitzunehmen. Loirach verschloss seinen Schlupfwinkel sorgfältig.
»Du musst wieder hinunterklettern«, damit deutete der Satyr auf den Weg, dem sie gestern Abend hierher gefolgt waren.
Dilga trat an den Rand des Felsens und schaute hinunter. Das war ganz schön tief. Von unten hatte es nicht so hoch ausgesehen. Er wandte sich um und sah sich nach einer geeigneten Wurzel um, die sein Gewicht trug. Loirach hob vom Boden ab. Diesmal verzichtete der Satyr darauf voran zu fliegen. Er wartete, bis Dilga sich hingekniet hatte und seine Beine über die Felskante baumelten. Loirach flog hinter ihn, während er mit einem Fuß nach einem Halt tastete. Der Abstieg gestaltete sich schwierig. Entsprechend langsam ging es voran. Die ganze Zeit sicherte der Satyr ihn gegen einen Absturz. Dilga fragte sich, ob Loirach wohl die Kraft hatte, ihn im Flug zu tragen. Wischte den Gedanken dann aber beiseite. Fliegen gehörte nicht zu den Dingen, die er sich wünschte.
»Du hast es gleich geschafft«, unterbrach Loirach seine Gedanken.
Schließlich stand er wieder auf festem Boden und sah sich um. Die Nadelbäume waren hoch und einige hatten dichte Kronen, trotzdem war der Wald längst nicht so dicht, wie der Mischwald weiter unten. Loirach führte ihn ein Stück auf dem Weg zurück, den sie am Vortag gekommen waren, bevor er auf einen Trampelpfad einbog, der unter die Bäume führte. Dieser Weg wurde eindeutig vom Schnee freigehalten. Neugierig sah er sich nach weiteren Spuren einer Bewirtschaftung um, konnte aber keine entdecken.
»Hättest du Mort wirklich getötet?« Dilga dachte an das blasse Gesicht des Holzfällers.
»Ich mag es nicht, wenn man versucht mich hinterrücks zu ermorden. Da reagiere ich empfindlich, weißt du.«
Die eigentümliche Art des Satyrs machte es Dilga unmöglich, in ihm länger eine gefährliche Bestie zu sehen. »Wieso hast du in der Höhle nach mir gesucht?«, forschte er weiter und wich einem tiefhängenden Ast aus.
»Es war meine Schuld, dass du in die Ogerhöhle gefallen bist. Du hättest schwer verletzt sein können. Dann wärst du diesen widerlichen kleinen Biestern hilflos ausgeliefert gewesen.«
»Was hätte dich das gekümmert?«
»Wieso hast du Sitah gerettet?«, antwortete Loirach mit einer Gegenfrage.
Er dachte darüber nach. Loirach schien ihm in einigen Dingen ähnlicher zu sein, als viele Menschen. Unvermittelt gabelte der Pfad sich vor ihm. Sie waren stetig weiter bergauf gegangen und die Bäume hier waren hoch, mit schlanken, biegsamen Stämmen. Der eine Weg führte weiter in den Wald hinein, der andere endete vor einer Felswand. Dilga wandte sich dem Waldweg zu.
»Halt!« Loirach deutete auf die Felswand. »Wir müssen da hinüber.«
Achselzuckend wandte er sich um und blieb schließlich vor der Wand stehen. Sie erstreckte sich nach links und rechts, soweit er sehen konnte. Höhleneingänge oder einen Weg hinüber sah er nicht. »Wo geht es weiter?« Ratlos blickte er an der glatten Felswand hoch.
»Hab ich dir schon gesagt«, schmunzelte Loirach. »Wir müssen über die kleine Wand da hinüber.«
»Ich hab keine Flügel, falls dir das entgangen ist.«
»Ich werde dich tragen.«
»Fliegen?« Erschrocken wich er zurück.
»Nun ja, eine derart steile Wand kann auch ich nicht hinauflaufen, also fliegen wir«, meinte Loirach munter.
»Nein!« Heftig schüttelte Dilga den Kopf.
Loirach packte blitzschnell zu. Er erwischte ihn am Handgelenk, zog ihn an sich heran und drehte ihn mit dem Rücken zu sich. Das weiche Fell des Satyr kitzelte ihn am Nacken, dann verlor er den Boden unter den Füßen. Panik überkam ihn und er versuchte sich aus dem festen Griff des Satyr zu winden. Sie gewannen schnell an Höhe. Die vorher mächtigen Bäume sahen plötzlich aus wie Kinderspielzeug.
»Soll ich dich wirklich loslassen?«, keuchte Loirach angestrengt.
Dilga warf einen Blick nach unten, stellte seine Gegenwehr ein und schloss die Augen.
»Mach die Augen auf, sonst wird dir nur übel«, empfahl Loirach.
Dilga hatte keine Ahnung, woher Loirach wusste, dass er die Augen geschlossen hatte. Aber aufmachen wollte er sie auf keinen Fall. Auch wenn ihm tatsächlich übel wurde.
Читать дальше