Das war Wasser auf Steiners Mühlen und nach seiner Meinung der geeignete Zeitpunkt, endlich das offenzulegen, was er schon seit dem Vorabend sicher wusste.
„Ehe Sie in Ihren Darlegungen fortfahren, Herr Kollege, möchte ich Ihnen den nahezu schlüssigen Beweis liefern, dass Wagner umgelegt wurde. Kommen Sie bitte mit mir mit.“
Obwohl es draußen noch einigermaßen hell war, nahm Steiner eine Taschenlampe mit und führte Rollinger zu einem Apfelbaum, der ungefähr zwanzig Meter gegenüber von Wagners Ferienhaus stand. Er leuchtete dem Stamm des Baumes entlang, bis er im Lichtstrahl der Taschenlampe wiederfand, was er hier tags zuvor entdeckt hatte.
„Sehen Sie das?“
Rollinger beugte sich vor und nahm seine Brille ab. Endlich kam auch er zum selben Ergebnis wie Harald schon tags zuvor. „Das ist ein Einschussloch.“
Er drehte sich um und sah in die Richtung des Wagnerschen Bungalows. „Offensichtlich aus der Richtung von Herrn Wagners Chalet abgegeben. Jetzt verstehe ich auch, wieso Sie mich gestern nach einer zweiten Patrone innerhalb des Hauses gefragt haben. Aber warum kommen Sie jetzt erst damit?“
„Als ich Sie nach einem Einschussloch innerhalb des Hauses fragte“, erläuterte der KHK, „war es nur eine Überlegung meinerseits gewesen. Da ja keine weitere Patrone im Gebäude selber gefunden worden ist, wie Sie mir sagten, konnte meine Hypothese nur stimmen, wenn das Geschoss aus der Wohnung heraus ins Freie abgefeuert worden war. Wenn Wagner diesen Schuss zwecks Vortäuschung eines Fremdverschuldens abgegeben hat, dann müsste auch irgendwo die Hülse dieser ersten Patrone zu finden sein. Doch lassen wir erst einmal zu meiner Wohnung zurückgehen. Es wäre vielleicht nicht falsch, wenn Frau Mink, der ich meine Entdeckung ebenfalls bislang vorenthalten habe, mit von der Partie ist.“
Wieder am Küchentisch sitzend, wiederholte Steiner in Monikas Beisein, was er Rollinger gerade erst gezeigt und berichtet hatte, um dann seine Theorie weiter zu entfalten.
„Ich nehme an, dass Alfons Wagner sich gestern um die Mittagszeit für seine Fahrt zur Handelskammer nach Luxemburg fertiggemacht hatte. Er wird sich geduscht oder gebadet haben ...“
„Geduscht“, unterbrach ihn der Commissaire. „Das ist festgestellt worden. Die Badewanne war trocken, die Duschkabine feucht.“
„Gut. Also er hatte sich geduscht, sich in Schale geworfen und die Unterlagen, die er mit der Person, die er bei der Handelskammer treffen sollte, bereitgelegt. Dann erschien ein Besucher, den er offensichtlich nicht erwartet hatte. Dieser Besucher war mit der Pistole bewaffnet, die man später in Wagners Hand sicherstellte. Mit der tötete er aus kurzem Abstand Herrn Wagner und manipulierte nun den Tatort und den Tatvorgang. Er lud das Magazin dieser Waffe mit einer Patrone nach, sodass es wieder voll war, legte sie in Wagners Hand und löste einen Schuss durch die geöffnete Tür ins Freie. Dass dieser Schuss ausgerechnet den schmalen Stamm des weit und breit einsam auf der Wiese stehenden Apfelbaums treffen würde, bekam er nicht mit und erahnte es nicht einmal. Das war ja auch viel zu unwahrscheinlich. Dann durchsuchte er das Haus nach irgendwelchen Dingen und nahm sämtliche Akten und Niederschriften mit, die er finden konnte.“
„Er war aber dabei nicht sonderlich gründlich“, glaubte der Commissaire. „Denn den Zettel in einer Jackentasche im Kleiderschrank hat er übersehen, und auch den Inhalt von Wagners Brieftasche hat er unangetastet gelassen.“
Nun mischte sich Monika ein. Ein Frevel, wenn Ihr Vorgesetzter ein Gespräch dieser Art führte. „Vielleicht hatte es der Täter ja nur auf die Unterlagen abgesehen.“
Steiner blickte sie missbilligend an, wandte sich aber wieder Rollinger zu.
„Eventuell hat Frau Mink Recht. Ich denke jedoch, dass der Täter unter Zeitdruck stand oder gar glaubte, mit den Akten und dem Notizbuch alles gefunden zu haben, was er brauchte, einen Suizid vorzutäuschen. Vermutlich waren die Akten gar nicht einmal wichtig, sondern bestenfalls für den Mörder verräterisch. Aber sogar das halte ich für unwahrscheinlich. Eher wollte er aufzeigen, dass es gar kein Wagnerprojekt in Luxemburg gibt, Wagner also mit dem Rücken zur Wand gestanden und deshalb Hand an sich selber gelegt hatte.“
Hierauf ging Rollinger ein. „Das Wagnerprojekt gibt es aber tatsächlich. Ich sagte bereits, wir haben Leute befragt, mit denen er hier in Luxemburg in letzter Zeit gesprochen hatte. Und das waren nicht gerade sehr wenige. Ein Versicherungsmakler namens Jos Weißler hat uns zu berichten gewusst, Wagner habe über ihn an Leute rankommen wollen, die in unmittelbarer Nähe von Luxemburg Stadt Baugrundstücke besitzen. Weißler vermittelte ihm Kontakte zu solchen Personen, und mit zwei dieser Personen war es dann auch zu Vorverträgen für den Ankauf von Baugrundstücken gekommen. Des Weiteren hatte er Verbindung mit einem hiesigen Rechtsanwalt und einem hiesigen Notar aufgenommen. Das ebenfalls im Rahmen eines Projektes, das er in Planung hatte. Und auch sein Termin bei der Handelskammer, den er nicht mehr wahrnehmen konnte, zielte auf dasselbe ab.“
Der Commissaire legte ein kopiertes Blatt Papier auf den Tisch und schob es Steiner zu. „Diese Liste haben wir sehr genau zu überprüfen versucht. Sämtliche aufgeführten Personen wohnen in Deutschland, in Belgien oder in Luxemburg. Einige der luxemburgischen Kandidaten habe ich gerade benannt. Über die Deutschen liegen uns bislang keine Erkenntnisse vor. Über die Belgier wissen wir besser Bescheid.“
Harald sah sich die anhand der Telefonvorwahlen nach Belgien und Deutschland zuzuordnenden Namen an und hätte fast einen Laut der Verwunderung von sich gegeben.
„Siegfried Jasper? Das wäre ja der Beweis, dass es doch eine Verbindung zwischen ihm und Wagner gegeben haben muss.“
Rollinger sah ihn erstaunt an, und Harald sah sich genötigt zu erklären, was in der Kölner Wagnerakte stand und wer Siggi Jasper war. Der Commissaire hörte gebannt zu und kam zu einer verblüffenden Feststellung.
„Eine seltsame Sache, muss ich schon sagen. Auch ein Teil der belgischen Leute auf der Liste gelten als nicht besonders sauber. Sie gehören einer Gruppe an, die man in Belgien das ,Brüsseler Immobilienkartell’ nennt, denen aber nie das Handwerk gelegt werden konnte.“
Monika meldete sich zu Wort. „Was sollen die denn verbrochen haben?“
„Tja, Frau Mink, was die verbrochen haben und wahrscheinlich immer noch aushecken, ist in Belgien sogar allgemein bekannt. Bei öffentlichen Ausschreibungen machen sie Preisabsprachen und schmieren Beamte und Politiker. Sie sollen Connections bis in die Polizei und zur Justiz unterhalten. Was die an sich reißen wollen, reißen sie auch an sich.“
„Wie sollen wir das verstehen?“ schaltete sich Harald wieder ein.
„Das sind Immobilienmakler, Bauunternehmer und ein ganz gewiefter Anwalt. Wird irgendwo ein Megaprojekt auch nur erwähnt, sind sie schon zur Stelle, um dessen Durchführung an sich zu reißen, und meistens erhalten sie es dann auch noch. Da ist Korruption im Spiel, Erpressung und sonst was. Ihrer Herr zu werden, ist unmöglich, obwohl jeder weiß, dass es sich so verhält, wie ich es schilderte.“
„Und wer sind von denen die Personen, die hier auf der Liste stehen, im Einzelnen?“ fragte Steiner.
„Alain Noel, Luc Korthals, Cornelis De Witte, Serge Charlier, Jaques Gaston und Olivier Gaston. Noel soll der Anführer sein. Er ist Immobilienmakler. Korthals, De Witte und die beiden Gastons sind Bauunternehmer. Charlier ist der Anwalt dieser Burschen.“
„Was sollte Wagner mit diesen Leuten am Hut haben?“ wollte Monika wissen.
„Keine Ahnung“, erwiderte Rollinger. „Aber das Projekt, das Wagner plante, könnte haargenau zu der Art von Projekten passen, in die sich das Kartell gerne einbringt.“
Читать дальше