Sam wusste mehr zu berichten. „San Francisco begeht den Jahrestag jenes Erdbebens, das am 18. April 1906 die Stadt zerstörte, jedes Mal in geheuchelter Demut“, fand er. Zwar würden bei unzähligen Veranstaltungen Bilder der Katastrophe präsentiert. Man führe den Einwohnern vor Augen, was ihr Schicksal wäre, wenn die Katastrophe sich wiederhole. „Vorsorge muss dringend getroffen werden, heißt es dann – aber geschehen tut nichts“, sagte er.
Ich hatte von dem historischen Beben gelesen und erinnerte mich. In der Morgendämmerung des 18. April 1906 um kurz nach 5 Uhr riss Kalifornien auf halber Länge auf. Die Erdkruste brach entlang einer von Norden nach Süden verlaufenden Nahtzone auf einer Länge von 1.280 Kilometern. Der Bruch war örtlich 500 Meter breit. Konservativen Schätzungen zufolge starben 3.000 bis 4.000 Menschen, Hunderttausende wurden obdachlos. San Francisco wurde fast völlig zerstört. Niemand hatte mit dieser Katastrophe gerechnet.
„Jetzt wissen wir wieder einmal, auf welchem Pulverfass wir sitzen!“, rief Mary aus und holte mich in die Gegenwart zurück. „Und deshalb müssen wir unser Leben genießen! Let’s get together for sauna this evening. Du kommst doch hoffentlich mit?“
Ich war überrumpelt, und bevor ich näher darüber nachdenken konnte, ob ich das unter den gegebenen Umständen wollte oder nicht, nickte ich.
Mary strahlte. „Sure?“
„Sure!“, entfuhr es mir. Hätte ich nur geahnt, worauf ich mich einlasse!
Es war bereits Ende August. Einen Monat zuvor, am 29. Juli, am Tag, als der große Philosoph – der Lieblingsphilosoph der frühen APO-Studenten – Herbert Marcuse, starb, waren meine Freundin Siu und ich in unsere „neue Heimat auf Zeit“ aufgebrochen. „Heimat auf Zeit“ hatte mein Vater Otto bei unserem Abflug Frisco genannt.
Siu und ich waren nun schon ein halbes Jahr zusammen, und wir verstanden uns prächtig. Nach unserer Ankunft in Californias schönster Stadt hatten wir gemeinsam Anschaffungen und nötige Erledigungen gemacht und in meiner neuen Wohnung einiges eingerichtet. Dann hieß es für Siu, ihre Uni aufzusuchen und ihr eigenes Studentenzimmer an der Stanford-University zu beziehen.
Wir hatten uns erst vor zwei Wochen in ihrem supermodern eingerichteten Zimmer auf dem Stanford-Campus innig geliebt und uns mit sehnsüchtigen Küsschen voneinander verabschiedet. Stanford war nicht weit von meinem Wohnsitz in San Francisco entfernt. Wir würden uns an den Wochenenden immer besuchen; manchmal vielleicht sogar unter der Woche. In den Semesterferien würden wir gemeinsame Fahrten machen. Ins Death Valley, nach Las Vegas, in den Yosemite-Nationalpark. Wir hatten viel vor – neben unserer Studien- und Forschungsarbeit.
Wir beide waren gemeinsam mit großen Hoffnungen nach Frisco aufgebrochen. Ich hatte für Siu alle Hebel bei der Naumann-Stiftung in Bewegung gesetzt, damit wir zeitgleich hier aufschlagen konnten. Was die Sponsoren von der FDP-nahen Stiftung nicht wussten, war, dass wir inzwischen ein Pärchen waren und natürlich hier in Übersee neben unseren Arbeits- und Studienaufträgen eine schöne gemeinsame Zeit verbringen wollten.
Nun hatte ich tagelang nichts mehr von Siu gehört, obwohl wir uns versprochen hatten, jeden übernächsten Tag anzurufen. Sie war nicht ans Telefon gegangen, egal zu welcher Uhrzeit ich anrief. Gerade heute, nach dem Beben, wurde ich unruhig. In dem Moment, als ich jetzt bei ihr anrufen wollte, klingelte das Telefon. Es war Siu.
„Hi Stefan“, sagte sie. „habt ihr das Beben gut überstanden?“
„Ich bin so beruhigt, deine Stimme zu hören“, antwortete ich. „Dir geht es also auch gut? Wir alle hier sind ohne Kratzer davon gekommen.“
„Ja. Schön.“ Pause.
„Geht es dir gut? Ich habe dich so oft angerufen, dich aber nicht erreicht. Ist etwas mit deinem Anschluss nicht in Ordnung?“
Stille am anderen Ende.
„Hallo, Siu?“
„Doch, alles in Ordnung. Ich habe viel zu tun. Das ist hier ziemlich hart. Bin voll im Studium und noch im Eingewöhnungsmodus.“
„Kommst du mit den Kommilitonen klar?“
Pause.
„Siu?“
„Ja, ja, alle sehr nett hier.“ Ich hörte sie kichern.
„Das freut mich. Ich liebe dich.“
„Oh ja. Ich habe wirklich viel zu tun. Kann ich dich demnächst wieder anrufen? Heute haben wir eine Campus-Party für alle Neulinge. Da möchte ich nicht fehlen. Verstehst du?“
„Na klar. Dann viel Spaß. Wann höre ich wieder von dir?“
„Hier ist volles Programm. Ich weiß noch nicht.“
„Heute Abend gehe ich mit unseren Nachbarn in die Sauna. Soll ein tolles Örtchen sein, oben auf der Dachterrasse eines Hochhauses. Wenn es schön ist, gehen wir demnächst zusammen hin, okay?“
„Weiß nicht. Aber lass es dir gut gehen. Tschüss!“
„Tschüss und Kussi!“
Wortlose Stille.
„Ja. Bis dann.“
Auf dem fünfminütigen Weg zum Hochhaus drückte sich Mary eng an mich und steckte mir ihre Hand in die Po-Tasche meiner Jeans. „We are friends, aren’t we?“
„Yes, we are very best neighbours“, antwortete ich. Ich war mir unsicher, was für eine Meinung meine drei best neighbours von American friendship hatten. Was bedeutete ihnen Freundschaft, was Liebe? Ich war und blieb in Siu verliebt – und diese Liebe war nicht teilbar. Aber mit Marys Nachbarschaftsfreundschaft – und damit natürlich auch mit der daran hängenden Freundschaft von Sam und Vicky – wollte ich es mir nicht verderben.
Am Hochhaus angekommen, war das Gebäude nicht ganz so groß, wie ich erwartet hatte; unten waren Stores angesiedelt. Ab dem ersten bis zum achten Stockwerk bestand es aus Wohneinheiten. Im letzten, dem neunten Stock, befand sich das individuelle Partyobjekt meiner punkigen Nachbarn, wie mir Mary vorab verraten hatte – ein großes Schwimmbecken mit 25-Meter-Bahnen, einem Whirlpool und zwei Saunen mit einmal 170 Grad Fahrenheit, was etwa 80 Grad Celsius entsprach, und einmal mit 60 Grad Celsius. Vor dem Haupteingang warteten auf uns bereits drei Punk-Pärchen und Sams dreiundzwanzigjähriger Freund James.
„Has anyone noticed you?“, fragte Sam seinen Liebhaber.
„Nobody saw us!“
„It has to stay that way now. Be quiet in the hall and in the elevator.”
Wir sollten im Flur und im Aufzug ruhig sein, meinte Sam. Mir war klar, dass die Jungs sich hier nicht ganz offiziell für ihre Privatparty kostenfrei „eingemietet“ hatten. Sam holte einen Schlüssel aus seinem Portemonnaie hervor und schloss auf.
„Woher habt ihr den Schlüssel?“, fragte ich.
„Wir haben einen Studienfreund am Kunstinstitut. Er ist hier nebenberuflich als Caretaker tätig, um sein Studium zu finanzieren.“
Es gab sehr viele Worte, Begriffe und Idioms, die ich noch nicht kannte. Sam erklärte mir im Aufzug flüsternd, dass »Caretaker« das Wort für Hausmeister sei.
„Ist es einer der Jungs, die hier mit ihrem girlfriend dabei sind?“
„My goodness, was denkst du! Wenn er erwischt würde, würde er gefeuert und sein Studium wäre unbezahlbar!”
„Und wenn ihr erwischt werdet?“
„Dann nennen wir den Namen eines Verwaltungsmanagers, den uns unser Freund genannt hat, und behaupten, dass er es erlaubt und uns den Schlüssel geliehen hätte.“
„Und wenn ihr genau an diesen Mann geratet, wenn ihr erwischt werdet?“
„Dann haben wir noch einen zweiten Namen. Aber wenn das so kommt, dann wäre es hier mit den geilen Partys leider vorbei.“
„Und die Bewohner? Gehen die nicht schwimmen und in die Sauna?“
„Das kommt ganz selten vor, meistens nur samstags oder sonntags. Wir feiern am liebsten unter der Woche. Bisher, also in den letzten acht Monaten, haben wir nur zwei Mal jemanden getroffen, und die haben sich dann gleich verzogen, weil wir ihnen zu viel waren. Die denken dann, dass wir Gäste eines Mieters seien und fragen auch nicht nach, sondern ziehen sich dezent zurück. Alles völlig easy. Du kannst dich entspannen. Timid German!“
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