Meine „Gefahren-Verdrängungs-Träume“ entführten mich durch das gesamte Umfeld von Frisco, führten an den mammutgroßen Red Woods vorbei nach Sausalito in die Golden Gate National Recreation Area, entlang der kalifornischen Weinanbaugebiete, entführten mich an die berühmte Hippie-Uni von Berkeley, anschließend in den Süden ins Silicon Valley und zur Stanford University, weiter nach Santa Cruz bis Monterey, um schließlich in Los Angeles anzukommen. Dort würde ich Anne treffen, meine liebenswerte Bekannte aus alten Gammler- und Provo-Zeiten vom Frankfurter Marshallbrunnen. Sie musste jetzt auch schon Mitte Zwanzig sein. Wenn ich mich recht erinnerte, war sie 1968 vier Jahre jünger als ich, also vierzehn Jahre alt, gewesen. Sie konnte wunderschön zur Gitarre singen. Noch vor Weihnachten dieses Jahres würde ich sie in L.A. besuchen. Davon und von Amy träumte ich.
Denn Amy, meine frühere Intimfreundin, die ich erst vor kurzem zufällig vor der Haustür meiner Wohnung in der Washington Street getroffen hatte, war ebenfalls mit Anne eng befreundet gewesen. Anne und ich hatten uns damals ewig lange gefragt, wohin Amy wohl verschwunden sei, und was die Umstände ihres abschiedslosen Verschwindens gewesen sein mochten. Jetzt aber befanden wir Drei uns in California – yippie yeah!
Diesen Traum träumte ich mehrere Male. Dann wachte ich auf und freute mich über die Neuerkundungsmöglichkeiten und das Wiedersehen.
Als ich mir eines Tages dieser Träumerei noch beim Aufwachen bewusst wurde, dachte ich wieder einmal an unsere frührevolutionäre Devise: »Trau keinem über Dreißig«. Und noch eines dieser früheren Vorhaben trotzte mir ein müdes Morgenlächeln ab: Keiner von uns pubertierenden Jungrevolutionären, die wir damals nur der „schonungslosen Wahrheit“ verpflichtet waren, wollte jemals dieses Alter erreichen. Dreißig – pfui Deibel! Eher würden wir im Guerillakampf neben Che Guevara sterben wollen. So alt werden! Nein. Ausgeschlossen!
Nun stand ich also ein Jahr vor diesem teuflischen Alter und empfand nichts Ungewöhnliches dabei, diese Altersgrenze bald zu erreichen. Erwachsenwerden ging also automatisch. Das hatten wir uns damals, 1968 am Marshallbrunnen, ganz anders vorgestellt, als uns all die Spießer wegen unserer Beatles-Haare anpöbelten. Als uns die LKW-Fahrer einen Groschen aus dem Autofenster zuwarfen und meinten, wir sollten mal auf einen Frisör sparen. Wollten wir auf diese erbärmliche Art erwachsen werden, in Frisiersalons sozialisiert werden? Nein, niemals! Erwachsene schienen uns größtenteils aus völlig abgehalfterten, abgestumpften, unzufriedenen, ewig grollenden Untertanen zu bestehen.
Jetzt, rund um mein neues Zuhause in Friscos Washington Street, grollte es auf andere, viel bedrohlichere Art und Weise. Plötzlich fing alles zu zittern und zu holpern an.
Ich kam zu mir.
Neben dem Donnergrollen hörte ich hektisches Klopfen an meiner Wohnungstür. Ich öffnete und stand meinen Nachbarn Sam, Vicky und Mary-Kay gegenüber. Mary packte mich am Arm.
„Stay here!“, brüllte sie gegen das Grollen an. Sie blieb mit mir unter dem Türrahmen stehen, während Sam und Vicky unter dem gegenüberliegenden Türrahmen ihrer Wohnung Schutz suchten. Meine Güte, wie konnte ich das vergessen haben: Bei einem Erdbeben musst du unter baulichen Verstrebungen Schutz suchen, wenn du nicht rechtzeitig hinaus ins weite Freie gelangen kannst.
Im nächsten Moment rumpelte es noch einmal gewaltig, und dann trat eine unheimliche Stille ein. Mary sah mich erleichtert an, dann küsste sie mich unversehens auf den Mund und griff mir zwischen die Beine, um mal kurz zuzudrücken. Puh! Eine verrückte Nudel, dachte ich. Das Erdbeben war hoffentlich vorüber, doch welches persönliche Beben stand mir nun bevor?
Wir warteten zehn urig lange Minuten. Danach liefen wir auf die Straße, wo schon andere Anwohner ängstlich und aufgeregt durcheinanderquasselten. Einige hatten Kofferradios dabei. Zwei Stunden später kam die Entwarnung. Wir inspizierten unsere Wohnungen, in denen sich zum Glück keinerlei Risse zeigten. Der einundzwanzigjährige Sam, seine ein Jahr ältere platonische Geliebte Vicky und die zweiundzwanzig Jahre alte Mary betätigten nun alle Wohnungs- und Schranktüren. Ich schloss mich ihnen an, um festzustellen, ob sich etwas verzogen hatte. Aber alles war noch voll funktionsfähig. Unser Haus war großenteils aus Holz gebaut, was zwar dem Brandschutz nicht zur Ehre gereichte, dafür jedoch einem Erdbeben besser als jeder Betonbau standhielt.
Wir waren zunächst noch unsicher, ob die Lage stabil blieb. Sie blieb es; es gab kein Nachbeben.
Wie wir am folgenden Tag erfuhren, gab es einige Risse in den Nachbarhäusern. Später erfuhren wir außerdem aus den News, dass eine Seite der Autobahnzubringerbrücke zum wichtigen Highway 80 eingestürzt war. Der Highway führte zur San Francisco-Oakland Bay Bridge, was für mich von Bedeutung war, da mich mein erster Arbeitsbesuch zu Professor Elliot Cahn an der dortigen Berkeley University führen sollte. Den Termin verschob ich am nächsten Tag telefonisch um einen Monat.
Das Bild der dramatisch halb herabhängenden Brücke wurde noch zwei Wochen lang in wiederkehrenden News gezeigt. Eingeblendet wurde immer wieder die jeweils aktuelle Aufbauarbeit an der beschädigten Brücke. Das Beben hatte eine Stärke von 6,8 auf der Richterskala gehabt, wie der Nachrichtensprecher in so lockerer Weise erläuterte, als sei alles eine Lappalie gewesen. Er erklärte dann, was es mit der Richterskala auf sich habe. Dass sie dazu diene, Aussagen über die Stärke von Erdbeben zu treffen und vom US-amerikanischen Seismologen Charles Francis Richter entwickelt und in den 1930er Jahren eingeführt worden war. Ein Beben von der Stärke 6,0 bis 7,0 sei als „stark“ einzustufen, denn es könne zu Zerstörungen in besiedelten Gebieten führen.
Dann zeigte man in dem Sendebeitrag eine Tabelle mit höheren Werten. Bei Stärken zwischen 7,0 und 8,0 bezeichne man demnach ein Beben als „groß“, denn es könne schwere Schäden über weite Gebiete verursachen. Eine Stärke von 8,0 bis 9,0 sei dagegen „sehr groß“, weil es starke Zerstörungen in Bereichen von einigen hundert Kilometern verursachen könne. Als „sehr groß“ zähle auch ein Beben in den Stärken zwischen 9,0 und 10,0 – denn hier wirkten Zerstörungen in Bereichen von tausend Kilometern verheerend. Ein Beben mit einer größeren Stärke als 10,0 sei noch nie gemessen worden. Man würde diese Stärke als „massiv“ bezeichnen.
Das mussten wir nicht erleben. Wie durch ein Wunder war bei „unserem“ Beben niemand getötet oder lebensgefährlich verletzt worden. Das Epizentrum befand sich glücklicherweise 74 Meilen südlich-östlich von San Francisco mitten auf dünn besiedeltem Land in der Nähe der Mercey Hot Springs. Hätte es nur 60 bis 120 Kilometer weiter nordwestlich gelegen, wäre es zu Friscos Super-Gau und zu meiner ganz persönlichen Katastrophe gekommen.
Die Forschung ging von einem großen Beben aus, das für Frisco unausweichlich sei. In den folgenden Tagen drehten sich die Fragen daher auf allen regionalen Fernseh- und Radiosendern darum, ob und wie man das erwartete, das unausweichliche »Große Beben« voraussagen könne. Mutmaßungen machten die Runde: Wächst die Spannung im Gestein unter San Francisco im Stillen? Oder wird sich das nächste Jahrhundertbeben durch anschwellendes Rumpeln ankündigen?
Meine Nachbarn erzählten mir, dass schon im April 1979 Forscher zum 73. Jahrestag des Bebens von 1906 versucht hatten, die Kalifornier aufzurütteln. Denn, so meinte Mary, es stehe fest, dass der nächste »Big One« kommen werde. Die Geschäftigkeit und betonte Lässigkeit der Kalifornier deutete meine nachbarliche »Sack-Grapscherin« als Anzeichen einer kollektiven Psychose.
„Verdrängung einer bevorstehenden Katastrophe“, lautete die Diagnose auch von Sam und Vicky.
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