In diesem Sommer, im Juni 2019, besuchte ich zwei Hippie-Festivals. Das erste war das World Music Festival der Klangfreunde in Loshausen. Dort verteilte ich am ersten Tag meine Werbeflyer für die Bücher. Am zweiten Tag schlug ich meinen Stand auf und eine junge Frau, Mitte Zwanzig, kam zu mir.
„ Hast du auch ein Buch, das meiner Altersgruppe am nächsten kommt?“, fragte sie mich.
„ Das Buch, das du dir wünschst, erscheint erst im Juli 2021. Es heißt »Zeitlose Zeiten – 2000 etc.«. Kannst du denn so lange warten?“
Sie lachte. „Natürlich nicht. Aber selbst »Crazy Zeiten«, dieser Mittsiebziger-Band, ist ja noch so schrecklich weit von mir entfernt.“
Jetzt war ich am Lachen. „Das Erstaunliche ist: Je älter du wirst, desto mehr schmelzen die Zeitspannen zusammen – und in spätestens zwei Jahrzehnten wirst du merken, dass die Siebziger Jahre nicht himmelweit weg sind.“ Sie schaute mich sehr kritisch an, und da wurde mir bewusst, dass für sie natürlich auch die vor ihr liegenden, von mir gerade erwähnten zwanzig Jahre eine Ewigkeit bedeuteten.
Jedenfalls kaufte sie die »Crazy Zeiten«.
Drei Tage später, am letzten Festivaltag, kam sie an den Stand gerannt. „Hast du noch den zweiten Band, »Wilde Zeiten«? Jetzt interessiert mich doch, was davor geschah und wie alles war.“
Sie nahm ihn mit. Vier Tage später begann das Burg Herzberg-Festival, wo ich wieder meinen Stand hatte. Diese vielen lieben Hippie-Leutchen, Althippies, Neohippies, Möchtegernhippies und Liebhaber der alten wie neuen Hippie-Songs und viele andere zogen an mir vorüber. 12.000 Besucher zählte das Festival. Viele blieben stehen und nahmen die Flyer mit, ohne dass ich diese – wie auf der letzten Buchmesse in Frankfurt – wie Sauerbier anbieten und nur in mürrische Gesichter schauen musste.
Da erblickte mich die Mittzwanzigerin aus Loshausen und kam strahlend an den Stand.
„ Und jetzt hätte ich gerne den ersten Band »Sexy Zeiten«. Es ist ja so spannend. Und das Lesen auf der Zeitschiene klappt auch in umgekehrter Rückwärtsfolge.“
Na, das war ja beruhigend . „Kannst du auch etwas an Geschichtswissen aus meinen Büchern mitnehmen?“, fragte ich.
„ Und ob! Ganz viel Interessantes, was ich noch gar nicht oder nur ganz anders wusste.“
Ja, so ist es. Die Jugend muss die Geschichte kennen.
Und wir müssen die Geschichte erzählen.
Wer, wenn nicht wir?
I.
Denk‘ nicht nur an dich allein
Denk‘ nicht nur an deine Familie
Denk‘ an alle
Denk‘ an die ganze große Menschheitsfamilie
Du gehörst zu ihr
II.
Glück ist,
wenn der Verstand tanzt,
das Herz atmet
und die Augen lieben
Für Aurelia, Viviane und Desiree
1979 – San Francisco – People in motion
Das grauenhafte Grollen draußen vor meinem Zimmerfenster ließ mich ans Fenster stürzen. Normalerweise hatte ich von hier aus einen herrlichen Ausblick auf San Franciscos Polk Street. Ich schaute bei untergehender Sonne gerne nach draußen. Ich liebte das dumpfe Hupen der Schiffe, bevor sie im Hafen anlegten oder nachdem sie abgelegt hatten und sich auf den Weg durch den Pazifik machten. Ich stellte mir dann diese modernen Frachtschiffe als alte Dampfer vor, wie sie zu Zeiten der europäischen Okkupation dieses herrlichen Kontinents über die Ozeane kreuzten. Ob auch die Ureinwohner diese Signale liebten? Eher nicht, für sie kündigten sich damit unabwägbare Gefahren an.
Mir war bewusst, dass es damals keineswegs mit friedlichen Mitteln zugegangen war. Es war keine Idylle sondern knallharte Eroberungs- und Besatzungsrealität gewesen. Dennoch schlummerte in mir jene gewisse Wildwest-Romantik, die mir so anschaulich Karl May mit seinen Indianergeschichten mit Winnetou, Sam Hawkens und Old Shatterhand ins emotionale Gedächtnis eingebrannt hatte.
Auch Mark Twain hatte mit Tom Sawyers Abenteuern und Streichen seinen Anteil an jener Romantik – diese gemütlichen, hupenden Schaufelrad-Dampfer, dieser unbändige Mississippi, diese überwältigende Natur, dieses ewige Fernweh und jene großen Fahrten zwischen Europa, Afrika und der Neuen Welt. Import von Menschen und Gütern; Sklavenhandel, Ranches, Cowboys, Forts und der Kampf zwischen den „Weißen“ und den „Rothäuten“, zwischen den Süd- und den Nordstaaten – wahrlich keine Idylle, eigentlich kein Platz für Romantik, eigentlich … aber dieses dumpf hupende Ankunfts- und Abschiedsritual der Überseeschiffe faszinierte mich dennoch jedes Mal aufs Neue.
Einen kurzen Augenblick lang verfing sich mein Gefühl in diesem aus der Kurzzeiterinnerung hervorgekramten Schiffsgedröhne; wahrscheinlich sortierte mein Hirn die Signale, doch da war kein aufwendiger Sortieraufwand nötig. Dieses Dröhnen da draußen hatte nichts mit den Schiffsignalen gemein. Mein emotionaler Gedankenbrei wurde abrupt unterbrochen, als sich das unheimliche Geräusch jäh zu einem schrecklichen Donnergrollen steigerte.
Ich zögerte einen Moment, ob ich bei diesem Orkan das Fenster öffnen sollte. Dann riss ich es auf – und spürte keinen einzigen Windhauch. Ein Orkan? Weit gefehlt. Ein unheimlicher Stillstand schien trotz des wütenden Geräusches zu herrschen. Unbegreiflich! Ich bekam eine Gänsehaut. Weit und breit bewegte sich nichts – außer mir.
Alles drehte sich plötzlich um mich herum. Mir wurde schlecht. Ich erlebte etwas völlig Neues, Unbekanntes: einen Schwindelanfall. Ich schloss schnell das Fenster, torkelte ein paar Schritte zurück ins Zimmer, lehnte mich erschrocken mit dem Rücken an die Wand, um nicht hinzufallen. Und dann sah ich es: Das von mir gestern an einem Stück Kordel aufgehängte Bild der Berliner Malerin Monika Sieveking „Kohlekumpels im Streikrevier“ pendelte an der gegenüberliegenden Wand hin und her. Selbst die Wanduhr hinter dem Fernseher schien sich zu bewegen. Erst dachte ich, es läge an meiner Schwindelattacke, aber dann schaute ich noch einmal zum Kohlekumpel-Bild. Kein Zweifel, es pendelte tatsächlich von links nach rechts. Jetzt plötzlich hörte ich von überall her Schreie. All das passierte in Sekunden, aber mir kam es vor, als seien es lange, bange Minuten.
„Open the door!”, hörte ich im Treppenhaus meinen Nachbarn brüllen. Meinte er mich? Ich war wie benommen.
„Open it and get down under the doorway!“, schrie
Sam. “It’s an earthquake!”
Ein Erdbeben! Hätte ich es nicht ahnen können? Hatte ich doch erst kürzlich in Vorbereitung meines achtzehnmonatigen Frisco-Aufenthaltes einiges über den San-Andreas-Graben und über die im wahrsten Sinne des Wortes „bewegte Geschichte“ San Franciscos gelesen. Es war eigentlich klar, dass es wieder geschehen würde. Dennoch hatte ich die Gefahr völlig verdrängt. So wie ganz Frisco mit einer fast unbegreiflichen Sorglosigkeit und einem erstaunlichen Mangel an Wirklichkeitssinn das Urteil, das die Natur über die Stadt verhängt hatte, ignorierte.
Was blieb mir auch anderes übrig, als mich dieser gängigen Ignoranz zu ergeben, wenn ich nicht als Angsthase mein gesamtes, mühsam erarbeitetes Forschungs-, Doktoranden-, Erlebnis- und Karriereprojekt an die Wand klatschen wollte! Natürlich hatte ich lange vor meiner Abreise in dahindämmernden Minuten vor dem Einschlafen gelegentlich an diese Gefahr gedacht. Doch ich hatte sie mit wunderbaren neuartigen Zukunftsphantasien aus dem Bett geworfen.
Dann träumte ich lieber von meiner zügigen Arbeit an meinem Forschungsprojekt, das letztlich der Steuerzahler trug, weshalb ich mich zu guten Ergebnissen verpflichtet fühlte. Ich stritt innerlich mir selbst gegenüber entschieden ab, dass dies alles eine Stufe auf der Karriereleiter sei, denn als Karrierist wollte ich vor mir selbst keinesfalls gelten. Nein, ich war nur ein kleiner Doktorand, der versuchte, im Land seines Erzfeindes ein realistisches Bild von dessen Innerem zu gewinnen.
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