Nun also der Polizeipräsident mit seiner »Keynote«, wie das Programm großsprecherisch verkündete. Gespickt mit kriminalistischen Glückskeksweisheiten, wie zum Beispiel diese: »Wir dürfen niemals nachlassen, niemals aufgeben. Und unsere Ressourcen stets im Sinne der Sicherheit des Steuerzahlers einsetzen.«
Katharina bekam von der verdrehten Grammatik Kopfschmerzen. Doch viele ihrer Kollegen notierten Drechsels Weisheiten auf Zetteln, die sie über ihren Schreibtischen an die Wand pinnten – für den Fall, dass sich seine Hoheit doch einmal in ihre Büros verirrte.
Katharina hatte es auch ohne solche Mätzchen geschafft: Kriminaldirektorin mit gerade mal dreiunddreißig Jahren. Leiterin einer eigenen Einheit.
So stand es zumindest auf dem Papier. Die Realität sah anders aus: weggelobt. Auf Gedeih und Verderb mit dem Mann zusammengeschweißt, der neben ihr auf dem Treppenabsatz stand und den sie sich nicht einmal anzusehen traute.
Sie würde sich an Andreas Amendt festhalten müssen, wenn die Stufe endgültig nachgab. Ihn mit in den Abgrund reißen. Wie symbolträchtig!
Zwei Schweißperlen rannen langsam Katharinas Rücken hinab und hinterließen eine juckende Spur.
Warum war sie an diesem Morgen nur auf die blöde Idee gekommen, ausgerechnet ihren Nadelstreifen-Anzug anzuziehen? Und dazu noch Schuhe mit Absätzen? Sie würde sich auf der lockeren Stufe den Hals brechen. Aber sie durfte den Platz nicht wechseln: Die Fernsehteams und die diversen Protokollchefs der anwesenden Politiker hatten in zähen Verhandlungen alle Anwesenden malerisch auf der alten – und baufälligen – Treppe positioniert, die zum Portal der Karl-Kreutzer-Villa emporführte.
Katharina war die subtile Machtdemonstration nicht entgangen. Die Politiker und die Vertreter der Sponsoren saßen natürlich auf bequemen Stühlen, im kühlen Schatten, während Katharina und ihr Team stehen mussten, in der für die Jahreszeit viel zu heißen, stechenden Sonne.
In der Mitte das Rednerpult. Dahinter Polizeipräsident Drechsel, der in seiner gut gefüllten Uniform und mit seinem Schnauzbart aussah, als hätte Super-Mario den Verlust seiner Prinzessin mit viel zu viel Pasta gefeiert und anschließend den Beruf gewechselt. Er schwadronierte mittlerweile vom »Bahnhofsviertel-Ripper«. Seinem großen Fall. Damals in den Achtzigern, als er für ungefähr fünf Sekunden Leiter der Abteilung für Kapitalverbrechen gewesen war – nur eine Zwischenstation auf seinem Weg die Karriereleiter empor.
Endlich hatte Katharina einen halbwegs stabilen und bequemen Stand gefunden und senkte den Blick zu Boden. Als Schutz gegen die Sonne und die neugierigen Augen der Kameras. Doch …
Die Haare in ihrem Nacken wollten sich aufstellen. Ihr Rücken kribbelte. Nein, das waren keine weiteren Schweißperlen, die sie in den Wahnsinn treiben wollten. Das war ihr Jagdinstinkt. Warum schlug er ausgerechnet jetzt an?
Gut, es hatte sich auch Politprominenz zur Eröffnung der Sonderermittlungseinheit verirrt. Aber das Anschlagsrisiko sollte der Personenschutz des BKA doch im Griff haben, oder?
Prüfend ließ Katharina den Blick über das Publikum schweifen, das sich auf dem Platz vor der Villa versammelt hatte. Mehrere Fernsehteams mit Kameras. Journalisten, die ihr Diktafon in die Höhe reckten. Fotografen, ihre Kameras schussbereit.
Und jede Menge Frauen. Wie immer, wenn er irgendwo sprach: Jan-Ole Vogel. Minister des Landes Hessen für Justiz, Integration und Europa. Rockstar der liberalen Partei. Schwarm aller Frauen jenseits der fünfunddreißig. Und für heute der letzte Redner. Der Höhepunkt .
Stopp, was wollte sie noch? Ach ja! Risiko-Assessment in einer heterogenen Menschenansammlung! So zumindest war der Fachartikel im »Kriminalist« überschrieben, der jahrzehntelange Polizeierfahrung in die Sprache der PowerPoint-Generation übersetzt hatte. Der Autor des Artikels hatte es sich nicht nehmen lassen, zur Illustration seiner Gedanken ein »Wo ist Walter?«-Wimmelbild abzudrucken.
Also: Medienvertreter, viele Frauen, mal mit, mal ohne IKEA-einkaufsgestählten, beziehungsoptimierten Begleiter. So weit, so gut. Wo war das Element, das nicht ins Bild passte? Wo war Walter?
Weiter hinten hielt ein vereinzelter Demonstrant stolz ein Schild hoch: »Gegen Polzeistatt und Überwachsungswann!«
Rechtschreibung hielt er vermutlich auch für einen faschistoiden Auswuchs. Rechts und links von ihm standen bereits Männer mit kurzgeschorenen Haaren und dunklen Anzügen: Beamte aus der Politiker-Leibgarde. Sollte der Demonstrant Grund für Katharinas inneren Alarm gewesen sein, war also alles in bester Ordnung.
Sie warf noch einen letzten prüfenden Blick in die Runde, ließ ihn auch über die Bäume und die Mauerkrone zum Nachbargrundstück schweifen. Nichts Auffälliges. Ihr Jagdinstinkt musste sich getäuscht haben. Sie wollte sich wieder dem Geduldsspiel widmen, auf ihrer Wackelstufe eine etwas bequemere Stellung zu finden, doch ihr Nacken kribbelte noch immer. Stärker als zuvor.
Jemand beobachtete sie.
Nein. Nicht irgendjemand.
Jan-Ole Vogel!
Kein Wunder, dass man ihn den Richard Gere der hessischen Landespolitik nannte: hochgewachsen, schlank, schmale Hüften, breite Schultern – eine Schwimmerfigur, die er selbst leger auf seinen Stuhl gegossen nicht verbergen konnte. Die sorgsam manikürten Hände, die hin und wieder nachdenklich über das graumelierte, volle Haar strichen. Das markante Kinn. Die hohen Wangenknochen. Die geschwungenen Lippen. Der graue Maßanzug mit farblich abgestimmtem Hemd, Krawatte, Einstecktuch.
Und dann natürlich dieser Blick aus seinen eisgrauen Augen, den die Kameras ebenso liebten wie die Frauen im Publikum: klar, manchmal stechend, doch immer umflort von einem leichten Hauch von Tragik; vieles gesehen, vieles vergeben, doch nichts vergessen.
Vielleicht sollte ich mich geschmeichelt fühlen, dachte Katharina, dass er von allen anwesenden Frauen ausgerechnet mich ansieht. Aber das war kein Flirtblick. Das war der Blick des Schachgroßmeisters, bevor er den nächsten, den entscheidenden Zug machte.
Jan-Ole Vogel galt als brillanter Schachspieler. Seine ELO-Zahl bewegte sich angeblich in Meister-Nähe. Katharina hatte einmal gegen ihn gespielt. Auf einem dieser unsäglichen Charity-Events, die der Polizeipräsident in regelmäßigen Abständen aus dem Boden stampfen ließ.
Vogel war simultan gegen die zehn besten Schachspieler des Frankfurter Polizeipräsidiums angetreten. Michael Phelps gegen die zehn besten Schwimmer der Sahara. Katharina war stolz darauf gewesen, dass es ihr immerhin gelungen war, ein Remis herauszuspielen.
Hatte Vogel sie damals auch so gemustert – in der Endphase ihres Spiels? Und jetzt? Taxierte Vogel sie wirklich? Oder war das nur ihre berufsbedingte Paranoia? Vielleicht wusste Vogel ja einfach nur nicht mehr, wo er noch hinsehen sollte. Und zugegeben, sie war ein attraktiverer Anblick als der Polizeipräsident.
Nun denn, es gab eine ganz einfache Möglichkeit, herauszufinden, warum Vogel sie ansah. Sie richtete ihrerseits den Blick auf den Minister. »Spielst du auch Poker, Vogel? Ich habe gesehen, dass du mich ansiehst. Na, welches Blatt hast du, Vogel? Ich will sehen!«
Vogels Reaktion überraschte Katharina. Er nickte ihr freundlich zu.
»Sicherheit ist der Anspruch, den alle Bürgerinnen und Bürger haben, das Supergrundrecht, wenn Sie so wollen, gegenüber dem andere Rechte zurücktreten müssen, wenn es die Lage erfordert«, trompetete der Polizeipräsident in diesem Augenblick.
Zorn flammte in Vogels Augen auf. Als engagierter Liberaler war der Justizminister schon häufiger mit dem Polizeipräsidenten und seinem Lieblingsfeind, dem Innenminister, aneinandergeraten, wenn diese wieder einmal die bürgerlichen Freiheiten im Namen der Sicherheit mit Füßen traten.
Читать дальше