Stellring arbeitete sich mit der Lektüre älterer Studien des "Centre ..." ein, verfaßt von Autoren oder freien Mitarbeitern des Instituts. Die Berichte befaßten sich mit Syrien, Indonesien und dem Sudan. Einleitend wurde jeweils die politische und wirtschaftliche Lage dargestellt, im zweiten Teil handelten die Studien einzelne Führungspersonen ab. In den Texten seien einige Passagen bedauerlicherweise noch geschwärzt. Die Richtlinien im "Centre ..." schrieben das so vor. Er halte das Stellring gegenüber für nicht angebracht, hatte Van Beeken gönnerhaft gesagt. Der Grad der Geheimniskrämerei um eine Studie gebe nicht immer einen Hinweis auf ihre Relevanz. Eine ärgerliche Einschränkung, aber als neuem Mitglied im "Centre ..." sei Stellring der Zugang zur Vollversion zunächst bis auf Weiteres gesperrt.
Stellring nahm es hin. Er verschaffte sich einen ersten Überblick, sichtete die im Register angegebene Literatur und stellte befriedigt fest, fast alles war über den Rechner im Büro leicht greifbar. Eine Anzahl anderer Organisationen hatten eigene Studien zu den ihm vorgelegten Arbeiten des"Centre ..." verfaßt. Während der Studienjahre waren ihm von einigen die Namen schon nicht bekannt. Zu drei älteren Studien seiner neuen Kollegen verfaßte er je einen Kommentar. Ein sinnvoller Einstieg in die Arbeit im "Centre ..." oder nur Beschäftigungstherapie? Er traute sich die Einschätzung nicht zu. Vielleicht war der Weg nicht der schlechteste für die Einfühlung in ein nur wenig vertraute Arbeitsfeld. Er kannte sich mit den exotischen Regionen wie Indonesien und dem Yemen, um die es in den Berichten ging, nicht aus. Beurteilungen in der Sache waren damit von vornherein verwehrt. Der Versuch zu Korrekturen in der Sache würde bei Van Beeken allenfalls Verdacht erregen, der neue Mann neige zu Hochstapelei. Mehr als mild kritisierend durfte in den Fällen dieser beiden Länder eine Rezension ohnehin nicht sein, denn er kommentierte die frühere Arbeit von Kollegen, deren Weg er regelmäßig auf dem Büroflur kreuzte.
Auffallend häufig wiederholten sich bestimmte Rückschlüsse und Einschätzungen in den Studien. Abschnittsweise drängte sich der Eindruck von Plagiaten auf. Er stellte bald fest, die Studien zeichneten generell ein monotones Bild. Die abweichende Beurteilung parallel gerichteter Arbeiten blieb auf Andeutungen beschränkt. Stellring las an vielen Formulierungen die Scheu vor Festlegung und Risiko heraus. Soweit es um islamische Länder ging, wurden die Übel im Land übereinstimmend am Islamismus festgemacht. Allgemein fehlte der Darstellung der Menschen Einfühlung und Sympathie. Stand fehlende Empathie hinter dem Mangel oder der Wunsch, es Auftraggebern recht zu machen? Stellring fühlte nach seinen Erfahrungen im letzten Jahr die Berechtigung zu einer abweichenden Sicht der Dinge. Er hatte sich einiger Begegnungen bei der Rückkehr aus Afrika mit Dankbarkeit erinnert. Seine Kommentare zu den Studien über Ägypten und Sudan waren ausführlich ausgefallen. Er hatte nicht nur Formalien kommentiert sondern versucht, Aspekte nachgetragen und eigene Einschätzungen aufgeführt. Die Expertisen stellten durchweg Machtfragen in den Mittelpunkt, völlig zurecht, dem Auftrag der Kundschaft wurde damit entsprochen. Er war sich bewußt, seine Erfahrungen waren subjektiv gewesen, aber die kühle Verkennung von Unrecht als Grund vieler Probleme empfand er als Mangel. Das gezeichnete Bild blieb unvollständig aber klar war auch, die Beschränkung auf Machtperspektiven des Westens war gewollt.
Kein Zweifel, er wurde durch diese Beschäftigung mit der Arbeit des "Centre ..." vertraut, aber ohne die Gelegenheit zum Austausch mit den Autoren führte die passive Beschäftigung zum Überdruß. Er stellte sich die Frage, fanden seine Kommentare Leser oder wurden sie als bloße Fingerübungen umgehend in die Ablage entsorgt? Da Van Beeken für längere Zeit auf Reisen gegangen war, bat er nach der ersten Woche Trochard um ein Gespräch. Stellring trug ihm den Wunsch nach eigenständiger Arbeit vor und wurde mit der Bitte um Geduld vertröstet.
Am Tag danach kehrte Van Beeken zurück. Er fragte Stellring nach den Eindrücken der ersten Woche im Institut. Stellring spürte die Bemühung um den Eindruck von Wohlwollen heraus. Sein neuer Chef war, anders als die meisten Kollegen über das Abenteuer in Somalia und Pakistan informiert. Hatte ihm schon am ersten Tag anerkennend auf die Schulter geklopft und geäußert, der neue Mann habe Schneid bewiesen. Er selbst in gleicher Lage hätte wahrscheinlich den Mut zu einer hoch riskanten Flucht nicht aufgebracht. Stellring versicherte, er habe dabei einiges an Handwerklichem gelernt. Wie Van Beeken zu den ihm vorgelegten Kommentaren stehe? Die vage Geste ließ keinen Zweifel, der Andere hatte keinen gelesen, wahrscheinlich war er auch zur Aufwendung der Mühe und Zeit dafür nicht gewillt. Stellring wußte nicht, ob Tronchard sich für ihn verwendet hatte, aber von diesem Tag an arbeitete er an einer Studie über mittelfristige Entwicklungsperspektiven für Somalia.
Van Beeken legte Stichworte als Rahmen vor, auf Stellring entfiel die Feinarbeit. Er übergab ihm zusätzlich ein umfangreiches Verzeichnis von Denkschriften, Studien und eine Menge statistisches Material. Stellrings sei durch persönliche Erfahrungen und seine Sprachkenntnis für die Studie qualifiziert. Er möge den Zeitaufwand für eine gründliche Bearbeitung nicht scheuen. Qualität rangiere vor Schnelligkeit. Der Auftraggeber informiere sich nicht nur aus einer Hand, sondern habe immer die Möglichkeit zum Vergleich. Die Arbeit würde in zwei Versionen abzuliefern sein. Die erste als Vortragsmanuskript und zur Veröffentlichung bestimmt, die zweite solle ins Detail gehen, müsse das zusätzliche Material enthalten und würde nur Geheimnisträgern zugänglich gemacht. Die Schriften der Konkurrenz zum Thema hatten sich auf Mengen statistischen Materials gestützt. Manches davon erscheine Van Beeken dubios, mindestens gehöre es umfangreich ergänzt. Mit einer Erweiterung der Grundlage werde man sich vorteilhaft von den Konkurrenten abheben. Eine Denkschrift in Arabisch enthalte angeblich wichtige neue Hinweise auf neue Anführer der Opposition. Bisher liege dazu keine Übersetzung vor. Wenn möglich übernehme Stellring die Übersetzung bitte selbst! Stellring wußte, es würde möglich sein, er konnte auf SarinasHilfestellung hoffen. Ein Berg Arbeit lag vor ihm, aber unter der Studie würde der eigene Name stehen, wenn auch neben dem von Van Beeken erst an zweiter oder dritter Stelle. Ein Kollege arbeitete für das Kapitel wirtschaftliche Entwicklung an der Studie mit.
Die Phase der Einarbeitung lag hinter ihm, jetzt winkte eine Gelegenheit zur eigenständigen Betätigung! Ein zweiter Grund trug zu guter Laune bei: Sarina hatte angerufen. Sie hatte den Zuschlag für die Stelle im Dolmetschdienst der EU. In Zukunft würde sie hier in der Stadt oder wenigstens nahe bei Brüssel wohnen, besser noch, man bezog möglichst bald eine Wohnung zu zweit. Das Hin und Her über die Wochenenden wäre dann Vergangenheit. Der Zuschlag der Brüsseler Behörde an Sarina war alles andere als selbstverständlich und wollte gefeiert sein. Noch heute Abend würden sie sich dazu treffen. Sie habe auch einen Brief für Stellring von zuhause mitgebracht, hatte sie am Telephon gesagt. Er rief Franco Fella an, sagte ihm für diesen Abend ab und verließ das Büro.
Eine halbe Stunde später saß Stellring Sarina gegenüber. Sie trafen sich in dem kleinen Lokal unweit des Grand Place nicht zum ersten mal. Sarina war bester Stimmung, Stellring hatte sie so seit langem nicht mehr erlebt. Nichts zu spüren von der Traurigkeit, die sonst oft um sie war. Daß frühe Erfahrungen in der fernen Heimat zugrunde lagen, hatte sie ihm erst Wochen nach dem ersten Zusammentreffen recht gegeben.
Der Familienname der Eltern vertrug sich nur mühsam mit dem Vornamen Sarina. Über den scheinbaren Widerspruch hatte sie ihn schon am ersten Abend aufgeklärt. Der zweite Mann ihrer Mutter, die aus Afghanistan geflohen war, hatte sie adoptiert. Der leibliche Vater war im Bürgerkrieg Mitte der90er Jahre in einer Schießerei zwischen sowjetischen Soldaten und den Taliban geraten. Als zufälliges Opfer war er schwer verletzt worden und nach langer Krankheit gestorben. Die Mutter und den ältere Bruder hatte der Verlust anscheinend traumatisiert. Der Überfall hatte sich vor eigenen Augen der beiden abgespielt. Sarinas Bruder hatte erzählt, die Mutter sei über ein halbes Jahr lang verstummt und habe kein Wort mehr gesprochen. Sie hätte sich in dieser Zeit allein über Zeichen mitgeteilt. Sie habe die Zerstörung der Familie nicht bewußt erlebt, aber die Zeit mußte für das kleine Kind gespenstisch gewesen sein. Ein Onkel, der in Deutschland gelebt hatte, hatte die Mutter und beide Kinder aus dem Bürgerkrieg heraus zu sich geholt. Mit Hilfe einer Therapie habe Sarinas Mutter wieder zum Sprechen gefunden und neuen Lebensmut gefaßt. Sie hatte die neue Sprache gelernt und eine Arbeit in einem Sanatorium aufgenommen. Die Erinnerung an die Tragödie in der alten Heimat verfolge sie weiter, ihre Trauer habe sie nie abgelegt. Der Reiz der exotischen Erscheinung in ständig verhaltener Trauer hatte einem verwitweten Arzt Dr. Arnstein Gefallen an ihr finden lassen. Ihr Reiz und in schwächerem Maß die Melancholie hatten auf Sarina abgefärbt. Stellring hatte mit ihr zusammen die beiden ein paar mal in ihrem Haus besucht. Stellring hatte sich überzeugt, der Arzt hatte einen guten Griff getan, Sarinas Mutter war wie ihre Tochter eine attraktive Frau. Ein Hauptmerkmal, wie von Sarina angekündigt, ihre Verschlossenheit. Zu mehr als dem Austausch unverbindlicher Förmlichkeiten war man bei den Besuchen nicht gelangt. Sarina hatte das als nicht ungewöhnlich angesehen. Auch wenn man zu dritt ganz unter sich sei, kämen längere Gespräche selten auf. Ihr Bruder arbeitete in einer Bank. Vor zwei Jahren war er in deren Auftrag nach Übersee gegangen. Sarina hatte ihn dort zweimal besucht und Photos von ihm gezeigt. Sie hoffe, zu Weihnachten komme er wieder einmal zu Besuch.
Читать дальше