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Die Reinigung von Ernsts Zimmer hatte weder die erhoffte beruhigende Wirkung gebracht noch für Ablenkung gesorgt. Da sie nichts mit sich sonst anzufangen wusste, entschloss sie sich, in der Küche Staub zu wischen und sich somit an dieser Baustelle schon einmal vorzuarbeiten. Während sie sich in die Arbeit hineinsteigerte, wirbelten ihr Gedanken über ihre Eltern durch den Kopf. Wie es ihnen wohl ging? Was sie jetzt gerade machten? Ob sie Spaß hatten oder der Stress überwiegte? Wann sie wohl zurückkehren würden? Würde ihre Mutter womöglich besser auf sie zu sprechen sein, wenn sie hier durchhielt und ihrem Onkel half, die Hausarbeit gut erledigte und keinen Ärger machte? War dies vielleicht sogar ihre unausgesprochene zweite Chance, die es zu nutzen galt? Was ging in ihrer Mutter nur vor? Sie kam einfach nicht mehr zu ihr durch. Es war, als hätte sie eine dicke und feste Mauer um sich herum aufgebaut, die Vanny nicht durchdringen konnte. Doch dieser Zustand konnte sich nicht von heute auf morgen so ergeben haben. Wann und wo hatte es genau begonnen? Es konnte doch nicht alles an diesem einzigen Tag damals liegen? Wann nur hatte sich diese riesige Kluft zwischen ihnen gebildet? Die Jugendliche biss sich verzweifelt auf die Unterlippe, um mit dem Schmerz die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.
„Und überhaupt, seit wann bin ich so ‘ne Heulsuse?“, murmelte sie schluchzend vor sich hin. Sie mochte sich in letzter Zeit selbst nicht leiden. Eigentlich war es kein Wunder, dass ihre Eltern sich so von ihr distanzierten. Wenn sie sich nicht mochte, wie sollten sie dann andere Menschen leiden können? Vanny schrak aus ihren Gedanken auf, als plötzlich etwas mit lautem Klirren zu Boden fiel. Vor sich her fluchend sah sie nach unten. Sie hatte nicht aufgepasst und beim Auswischen des Schrankes einen Gegenstand auf den Boden geworfen - So viel zum Thema zweite Chance und ihre Arbeit gut machen. Schnell ging sie in die Knie und hob einen zierlichen, schwungvoll gebogenen Messingschlüssel auf. Für einen Haustür- oder Zimmerschlüssel war er viel zu klein. Neugierig blickte sie sich um, um einen Hinweis zu entdecken, wohin der Schlüssel gehörte, doch sie hatte keinen Erfolg. Nach einer Weile gab sie schließlich enttäuscht auf und verstaute den Schlüssel wieder eilig dort, wo er vermutlich gelegen hatte. Vanny beschloss, mit der Hausarbeit Schluss zu machen, stellte alle Sachen sorgfältig zurück und verzog sich in ihre Schlafkammer. Dort schnappte sie sich ihren derzeitigen Roman und legte sich gemütlich auf das Bett, um zu entspannen. Vielleicht würde es ihr so gelingen, endlich alles, wenn auch nur für winzige Augenblicke, zu vergessen.
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Nina legte nervös die Zeitung auf die Seite. Vanny hatte seit ihrem letzten Zusammentreffen nichts mehr von sich hören oder sehen lassen und sie machte sich Sorgen. Sie hatte nicht gut ausgesehen. Nina hatte zwar das Gefühl, sie etwas aufgeheitert zu haben, allerdings hatte Vanny nicht viel erzählt und es schien, als hätte sie etwas zurückgehalten. Grübelnd stand sie auf und blickte auf ihr Handy, doch sie hatte keine Nachricht bekommen. Was wusste sie selbst über Ernst? Eigentlich nichts. Er ließ sich im Dorf so gut wie nie blicken. Seine Lebensmittel schien er geliefert zu bekommen, und sie hätte nie im Traum daran gedacht, dass dieser Mensch tatsächlich so etwas wie eine Familie hatte. Vielleicht war er gar nicht so übel? Nina erschauerte leicht. Ihr ganzes Inneres protestierte gegen diesen Gedanken. Sie hörte ihre Tante im Nebenzimmer telefonieren. Womöglich konnte sie ihr mehr über den Einsiedler erzählen - Was er beruflich machte, ob sie ihn von früher kannte.
Entschlossen stand Nina auf und ging in das Nebenzimmer. Dort setzte sie sich auf die große Couch und wartete geduldig, bis ihre Tante mit dem Gespräch fertig war.
„Nina, was ist denn? Kann ich etwas für dich tun?“
Irritiert sah sie sie an. Die Jugendliche wusste, dass ihre Tante kein schlechter Mensch war und sich redlich um sie bemühte, so gut es ihr möglich war, aber Nina war sich schon länger bewusst, dass sie einfach nichts mit Kindern anfangen konnte, auch wenn sie versuchte, sich dies nicht anmerken zu lassen. Höchstwahrscheinlich ihr zuliebe. Sie hatte ihr nie Vorwürfe gemacht und würde es auch nicht tun. Immerhin hatte ihre Tante sehr viel für sie getan und Nina war ihr dankbar. Dennoch spürte sie wieder das Unwohlsein und die unterschwellige distanzierte Art.
„Eine Frage: Was weißt du über diesen Ernst? Der, der außerhalb des Dorfes alleine wohnt?“
Ihre Tante sah sie überrascht an.
„Nichts. Ich weiß nichts über ihn. Wieso interessiert er dich auf einmal?“, fragte diese ungewohnt barsch und wie aus der Pistole geschossen zurück. Nina erschrak über die Heftigkeit ihrer Worte, so kannte sie ihre Tante gar nicht. Diese bemerkte die Reaktion ihrer Nichte und zügelte ihren Ton.
„Entschuldige. Das kam jetzt härter raus, als es sollte. Ich habe nur wenig geschlafen und bin gerade etwas im Stress, da ich gleich zur Arbeit muss. Wir unterhalten uns ein andermal, okay?“
„Sicher …“, antwortete Nina unbehaglich zurück, doch ihre Tante war schon gegangen und hörte sie ohnehin nicht mehr.
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Nach nur einer halben Stunde war es Vanny gelungen, sich voll und ganz auf den Roman zu konzentrieren und wirklich keine anderen abschweifenden Gedanken zu haben, als sie plötzlich erschrocken zusammenzuckte.
„AAAAAHH!“
Der verzerrte Schrei der fremden Stimme fuhr durch ihren gesamten Körper und das Buch, das sie eben noch gespannt in den Händen gehalten hatte, fiel polternd zu Boden. Leicht zitternd richtete sie sich auf und sie brauchte nicht lange zu warten, bis der nächste Schrei ertönte. Lauter und deutlicher als der vorherige. Jetzt war sie sich sicher, dass es keine Einbildung gewesen war!
Was ging hier nur vor sich? Sie kam sich vor wie in einem nicht enden wollenden Albtraum.
„NGAAAAH! AAAAAHH!“
In einem Anflug von Panik sprang Vanny entsetzt vom Bett auf. Es wurde ihr jetzt definitiv zu viel. Ihr Körper schien sich von ihrem Bewusstsein abgekapselt zu haben, denn noch bevor sie überhaupt bemerkte, was sie tat, fand sie sich schon auf dem Flur wieder und rannte direkt in ihren Onkel hinein, der gerade in Richtung Speisekammer hetzte. Erschrocken wich sie zurück, jetzt verschwand auch der letzte verbliebene Rest Farbe aus ihrem Gesicht und ihre Muskeln verkrampften sich vor Anspannung und Nervosität. Ernst hingegen schob sie rapide beiseite, wie ein lästiges, mickriges Hindernis. Als er schon weitereilen wollte, hielt sie ihn intuitiv am Ärmel fest. Sie konnte sich das alles nicht eingebildet haben, da war sie sich ganz sicher. Ihr Onkel musste die Schreie auch gehört haben und war bestimmt deswegen hierher geeilt. Vermutlich, ja ganz sicher, wusste er mehr!
„Die Schreie, hast du sie gehört? Was, wer ist das? Wo kommen sie her? Was passiert hier? Was zum Teufel geht hier nur vor?!“
Völlig außer sich, verzweifelt und voller Furcht hatte die Jugendliche ihre zittrigen Hände noch fester in den Stoff des robusten Hemdes ihres Onkels gekrallt. Doch dieser zog mit einer Mischung von Verachtung und Zorn eine Augenbraue nach oben und herrschte sie ungerührt an:
„Du solltest dich mal hören! Ich habe für solchen Unsinn keine Zeit! Also steh hier gefälligst nicht im Weg rum und belästige mich nicht mit kindischen Gruselgeschichten!“
Vanny riss bei der unerwarteten Reaktion ihres Onkels die Augen auf und starrte ihn ungläubig an. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein?! Ihre Stimme drohte zu versagen und ihr wurde mit einem Mal ganz schwindelig.
„A … aber du musst es doch auch gehört haben. Es war doch so laut!“
Ernst, der schon ein paar Schritte weitergelaufen war, blieb abermals stehen, drehte sich allerdings nicht zu seiner Nichte um, als er mit einem drohenden Unterton in der Stimme antwortete:
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