Er zwinkerte ihr aufmunternd und spielerisch zu. Dies zauberte automatisch ein Lächeln auf ihr Gesicht.
„Immerhin kannst du wieder lachen, das ist doch schon mal was. Dann bin ich nicht ganz unnütz. Aber das mit deinen Eltern find ich echt nicht in Ordnung. Die Reaktion ist mir unverständlich. Auf sie kannst du dich anscheinend nicht verlassen. Hast du keinen Zweitschlüssel für euer Haus? Dann könntest du mit einem Taxi zum nächsten Bahnhof und von dort aus heimfahren. Das brauchen deine Alten ja vorerst nicht zu wissen.“
„Nein, leider nicht“, verneinte sie verbittert. „Ich hatte mal einen, doch der wurde mir abgenommen, nachdem ich Mist gebaut habe. Seit diesem Vorfall kommt es mir so vor, als sei das Verhältnis zwischen meinen Eltern und mir völlig gestört, aber das ist ein Thema, über das ich erst mal nicht sprechen möchte. Das hat nichts mit dir zu tun, ehrlich. Es ist nur … sonst zermartere ich mir noch mehr das Gehirn.“
„Kein Problem, aber das heißt, du hängst hier erst einmal notgedrungen fest?“
Sie seufzte und bejahte die Frage. Es folgte eine kurze Pause, in der beide nachdachten. Nach einer Weile unterbrach Keigo die Stille.
„Ist irgendetwas geschehen? Ich meine, ich kann mir wirklich vorstellen, dass es mit diesem Onkel alles andere als leicht ist. Aber es muss doch etwas passiert sein - du wirkst so aufgelöst.“
Er sah ihr eindringlich in die Augen und ein Kribbeln durchströmte ihren Körper. Sie wandte den Blick ab und erzählte ihm von der abrupten Abreise und Planung ihrer Eltern für die Sommerferien, von der Ankunft bei Ernst, dass eigentlich nicht bestehende Verhältnis ihrer Mutter zu ihrem Vater, die Arbeiten, die sie bei ihrem Onkel zu verrichten hatte, und die Liste, die sie als Beweis für ihren Fleiß führen musste. Auch ihre Vermutungen wegen des scheinbar unbenutzten Schlafzimmers, den Vorfall von heute Morgen und ihre Angst teilte sie mit ihm. Er hörte sich alles geduldig und mit ehrlichem Interesse an. Ab und zu zog er eine Augenbraue verwundert hoch und blickte erstaunt drein, doch unterbrach er sie nicht und ließ ihr die Zeit, die sie brauchte. Als sie fertig war, schüttelte er überzeugt den Kopf.
„Du kannst dort nicht bleiben. Ich meine, nein, das ist doch unzumutbar!“
„Aber ich habe doch gar keine Wahl, wenn ich nicht auf irgendeiner Parkbank schlafen möchte. Wo soll ich denn sonst hin? Vielleicht hab ich mich da ja wirklich in etwas reingesteigert und muss ihm mehr entgegenkommen, auch wenn ich keine Idee habe, wie ich das anstellen soll.“
Voller Selbstzweifel schlug Vanny die Hände vors Gesicht. Sie wusste nicht mehr, was sie noch glauben sollte. Wer war schuld? Was war zu tun?
„Die Schuld liegt nicht bei dir! Rede dir jetzt bloß nichts ein! Du könntest bei mir schlafen. Meinen Großeltern werde ich das schon irgendwie beibringen. Die sind zwar manchmal etwas streng und ziemlich altmodisch, aber im Großen und Ganzen recht nett.“
Vanny konnte nicht leugnen, dass sie sich über sein herzliches Angebot freute, allerdings stellte sie sich automatisch zwei etwas verwirrte Rentner mit ihrem Musterenkel vor, der plötzlich ein für sie wildfremdes Mädchen mitbrachte und ihnen eröffnete, dass diese für zig Wochen bei ihm schlafen würde. Traurig schüttelte sie den Kopf.
„Nein, das geht nicht. Das kann ich nun wirklich nicht annehmen. Echt, ich finde das voll lieb von dir, doch ich möchte nicht noch mehr Menschen Unannehmlichkeiten bereiten. Es geht nicht, ich würde mich dabei nicht wohlfühlen.“
Vanny warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr und erschrak. Sie hatte nicht bemerkt, wie die Zeit verflogen war. Zu Fuß hatte sie keine Chance, rechtzeitig zurück zu sein und das Abendessen vorzubereiten. Leichte Panik überkam sie. Hektisch stand sie auf und stellte den Stuhl zurück.
„Es tut mir leid, ich muss mich jetzt beeilen. Ich bin viel zu spät. Vielen Dank für alles, du hast mir wirklich mehr geholfen, als du dir vorstellen kannst.“
„Warte doch!“
Er hielt sie abrupt am Arm fest, bezahlte eilig die Rechnung und begleitete sie nach draußen. „Hör zu, nimm doch mein Fahrrad. So bist du schneller zurück und packst es noch rechtzeitig. Abgesehen davon kannst du dann schneller ins Dorf gelangen, falls irgendetwas passiert oder du etwas oder jemanden brauchst, okay?“
Sie sah ihn verblüfft an. Damit hatte sie nicht gerechnet und wollte widersprechen, doch er legte ihr flink und sanft zugleich den Zeigefinger auf die weichen Lippen und brachte sie so zum Schweigen.
„Falls dir das wieder unangenehm ist, dann tu mir einen Gefallen. Sozusagen eine kleine Gegenleistung.“
Ein lausbubenhaftes Grinsen huschte über sein Gesicht.
„Wie wäre es, wenn wir morgen alle zusammen frühstücken gehen? Nina, Enjoji, der kleine Robin und wir beide? Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich den anderen von deinem Onkel und der Gesamtsituation erzähle? Dann könnten wir gemeinsam nach einer Lösung suchen. Nina hat meistens die besseren Ideen. Na, was sagst du dazu? Haben wir einen Deal?“
Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Als sie nicht gleich auf seinen Vorschlag reagierte, ließ er sie, verlegen über seinen spontanen Überfall, los und kratzte sich nervös am Kopf.
„Tut mir Leid, also, ich wollte jetzt nicht, ähm …“
„Schon gut. Ich hatte nur eine lange Leitung“, wandte sie lächelnd ein. Er war einfach zu nett. Ihr Ritter in strahlender Rüstung, und schlecht sah er auch nicht aus. „Die Antwort auf all deine soeben gestellten Fragen lautet eindeutig Ja. Ich freu mich schon auf morgen. Vielen Dank noch mal.“
Sie umarmte ihn zaghaft, verabschiedete sich und nahm schließlich sein blaues Fahrrad, um den Rückweg anzutreten.
*
Mit dem geliehenen Fahrrad war sie pünktlich zurückgekommen, hatte es vorsichtshalber hinter dem Haus gut versteckt und war danach durch das offen gelassene Fenster in ihre Schlafkammer geklettert, da sie keinen Haustürschlüssel besaß. Kurzerhand entschlossen kochte sie Reis und bereitete schnell eine einfache Soße mit gedünstetem Gemüse zu und deckte in der Zwischenzeit auch noch geschwind den Esstisch. Ernst kam gerade, als alles fertig war. Mürrisch wie immer nahm er das Abendessen zu sich und bedachte sie dabei mit keinem einzigen Blick. Sich anschweigend saßen beide am viel zu großen Tisch und aßen, wobei Vanny eher lustlos in ihrem Essen herumstocherte. Wieder überlegte sie, einen Schritt auf ihn zuzugehen, obwohl sie Angst vor ihm hatte. Irgendwie musste sie ja die langen Ferien hier und mit ihm überstehen und ein weiterer Anlauf sollte da normalerweise nicht schaden.
„Sag mal, Onkel, als was arbeitest du eigentlich?“
Er hielt kurz mit dem Essen inne und murmelte genervt etwas vor sich hin, das sie nicht verstand. Danach war er wieder still und sprach während des gesamten Abendessens kein einziges Wort. Zu ihrem Erstaunen bereitete er ihr dann wieder eine heiße Schokolade zu und verschwand danach nach oben. Sollte das seine Art sein, sich zu entschuldigen oder die Situation zu lockern? Sie konnte sich darauf keinen richtigen Reim machen. Entmutigt und traurig nippte sie an dem heißen Süßgetränk.
Kapitel 8 - Tag 6 - Samstag
Zu Vannys Verwunderung hatte sie ganz ausgezeichnet geschlafen und fühlte sich sowohl erholt als auch gestärkt. Die gestrigen Ereignisse schienen ihr nun nicht mehr ganz so nah und niederschmetternd. Natürlich dachte sie auch an die Aussprache mit Keigo sowie die Verabredung zum Frühstück. Zum Glück hatte sie ihren Wecker gestellt, sonst hätte sie tatsächlich verschlafen. Es war seltsam, denn so tief und fest schlief sie normalerweise nie. Der gestrige Tag musste sie wirklich ans Ende ihrer Kräfte gebracht haben, anders konnte sie es sich nicht erklären. Schnell bereitete sie für Ernst Kaffee zu und verließ zügig das Haus, um ihm nicht begegnen zu müssen. So hatte sie genug Zeit, gemütlich ins Dorf zu radeln - ohne hetzen zu müssen. Die frische Morgenluft tat ihr gut und sie hatte das Gefühl, mit jedem weiteren Meter, den sie sich vom Haus entfernte, ihre Probleme Stück für Stück hinter sich zu lassen. Erfreut fuhr sie zum Treffen mit ihren neu gewonnenen Freunden.
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