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Das Laufen und die frische Luft taten ihr gut und halfen, den Kopf freizubekommen. Sie hatte das Dorf fast erreicht und sich etwas beruhigt, doch ihre Nerven lagen blank. Sie wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als diesen Ort schnellstmöglich zu verlassen. Deshalb würde sie nun die nächstbeste Telefonzelle suchen und alles ihren Eltern erzählen. Wenn sie ihnen die Umstände schilderte, konnten sie ihre Tochter gar nicht hier lassen! Die Jugendliche atmete tief durch. Alles würde wieder gut werden, es musste sich einfach zum Guten wenden. Sie hielt es bei ihrem Onkel nicht mehr aus. Sie hoffte inständig, dass sie bald hier wegkonnte, zurück nach Hause, zu ihren Freunden und ihrer Familie. Zielstrebig und voller Tatendrang ging sie in die erste Telefonzelle, die sie fand, und kramte in ihrer Hosentasche nach Münzen.
„Oh nein! Das kann doch nicht … so ein Mist!“
Vanny schlug sich verärgert und verzweifelt zugleich gegen die Stirn. Natürlich hatte sie bei ihrer Flucht nicht daran gedacht, irgendetwas mitzunehmen. Allerdings hatte sie normalerweise in ihren Hosentaschen immer etwas Kleingeld, ausgerechnet jetzt aber nicht. Traurig biss sie sich auf die Unterlippe. Sie hatte nicht einmal einen Cent dabei. Der ganze Weg war umsonst gewesen. Warum lief seit geraumer Zeit alles schief? Was sollte sie nur tun? Müdigkeit mischte sich mit aufkommender Depression und Ratlosigkeit. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich gegen die klapprige Telefonzelle. Sie durfte jetzt nicht verzagen. Sie musste zuallererst ihre Gedanken ordnen. Irgendetwas musste ihr doch einfallen! Es musste eine andere Lösung geben, als den ganzen Weg nochmals zurückzulaufen?
„Du siehst ziemlich fertig aus. Was ist los? Kann ich dir irgendwie helfen?“
Sie öffnete die Augen und blickte in Keigos lächelndes Gesicht. Das Gefühl der Anspannung wich der Erleichterung und Freude. Am liebsten wäre sie ihm dankend um den Hals gefallen. Sie bemühte sich zu lächeln und schluckte ihre Tränen hinunter.
„Dich schickt doch wirklich der Himmel zur rechten Zeit!“
Sein Lächeln wandelte sich bei dieser Aussage in ein breites, schelmisches Grinsen. „Das musst du mal meiner Großmutter erzählen, die ist da nämlich ganz anderer Meinung. Möchtest du telefonieren? Kann ich dir da irgendwie helfen? Du siehst so niedergeschlagen aus.“
Bevor sie ihm antwortete, hielt sie kurz inne, die Situation war ihr ziemlich peinlich. Aber sie sah keinen anderen Ausweg und überwand sich.
„Kannst du mir ein bisschen Kleingeld zum Telefonieren leihen? Du bekommst es auf jeden Fall in den nächsten Tagen wieder zurück, versprochen.“ Er winkte auf ihre Worte hin ab.
„Du musst mir nichts zurückgeben. Mach dir mal keinen Kopf. So viel Geld kann ich gerade noch entbehren. Reichen dir zwei Euro oder brauchst du mehr?“
Galant hielt er ihr dabei die Tür auf und drückte ihr unbekümmert die Münze in die Hand. Sie nickte dankbar und nahm den Hörer ab.
„Ich warte da hinten auf dich, okay? Falls du Zeit hast, können wir ja danach noch was trinken gehen. Natürlich nur, wenn du möchtest.“
Sie nickte ihm abermals verbunden zu. Es war, als wäre eine schwere drückende Last beiseitegeschoben worden. Endlich schien sich alles zum Guten zu wenden. Sie holte noch einmal tief Luft, bevor sie das Geld in den Kasten fallen ließ und die Handynummer ihrer Eltern wählte. Nervös wartete sie das viel zu lang andauernde, dumpfe Tuten ab. Es klingelte insgesamt viermal und sie betete, dass schnellstens jemand drangehen würde, als die Stimme ihrer Mutter erklang.
„Hallo?“
Vannys Herz machte einen Freudensprung.
„Hallo Mama, ich bin's!“, rief sie erleichtert in den Hörer, doch statt der erwarteten Reaktion setzte eine gespenstische Stille ein und obwohl sie nur Sekunden andauerte, kam es der Jugendlichen wie eine Ewigkeit vor.
„Ah, Vanny. Du bist es. Wie geht es dir? Hilfst du deinem Onkel auch eifrig? Ich hoffe, du bereitest ihm nicht allzu viele Umstände? Bitte bemüh dich und fall ihm nicht zur Last.“
Vanny schluckte. War es Einbildung oder klang ihre Mutter ziemlich kühl und emotionslos? Sie schüttelte kurz den Kopf, um diese Vermutung abzuschütteln. Das durfte sie jetzt nicht abhalten.
„Mama, hör mir bitte zu. Ihr müsst mich wieder nach Hause holen! Ich halte es hier nicht länger aus. Egal was ich mache und tue, ich kann es ihm einfach nicht recht machen. Ernst ist aggressiv, aufbrausend und … ich habe Angst. Mir geht es wirklich schlecht. Du weißt, dass ich euch nicht oft um etwas bitte, aber lasst mich nicht weiter hier alleine! Bitte.“
Wieder erfolgte eine Pause, und sie war länger als die vorherige.
„Mama?“
„Vanny, du weißt doch, dass wir dich jetzt unmöglich abholen können! Wir sind mitten auf einer Geschäftsreise. Dein Vater und ich können nicht einfach so fahren. Wir haben Verpflichtungen! Tut mir leid, aber so schlimm kann es nicht sein. Ich bin mir sicher, wenn du etwas mehr auf ihn eingehst, dann wird sich das Verhältnis zwischen euch bessern. Also bitte reiß dich zusammen, hör auf zu nörgeln und streng dich ein wenig an! Sobald dein Vater und ich hier fertig sind, holen wir dich ab. Hab etwas Nachsicht mit deinem Onkel und mach keinen Ärger! Ich weiß, du hast dir die Ferien anders vorgestellt, aber es ist jetzt eben so und du solltest versuchen, das Beste daraus zu machen. Das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert! Wir sehen uns schon wieder. Die Zeit vergeht schneller, als man denkt. Ich muss jetzt Schluss machen, wir haben ein Meeting. Also halt dich munter und benimm dich. Bis dann. Gruß auch von deinem Vater.“
Fassungslos stand die Jugendliche da, unfähig, irgendeine Bewegung zu tätigen. Ihre Mutter hatte nach der frostigen Predigt einfach aufgelegt, ohne eine Antwort von ihr abzuwarten. Sie bebte vor Anspannung und ihre Augen brannten unangenehm von aufkommenden Tränen. Das konnte doch nicht wahr sein. Ihre Mutter hatte sie einfach abgewürgt wie einen lästigen Vertreter. Hatte sie ihr überhaupt zugehört? Sie hatte nicht einmal die Chance gehabt, die Umstände genauer zu erläutern. Vanny fühlte sich alleine, völlig im Stich gelassen, abgeschoben und verraten. Ihr war, als stürzte sie unaufhaltsam in ein großes, schwarzes Loch, vergeblich versuchend, an nicht sichtbaren Wänden einen Halt zu finden. Ihr wurde schwindelig und sie stützte sich gegen die Scheibe der Telefonzelle. Alle Kraftreserven schienen aufgebraucht und verschwunden zu sein, zurück blieb ein Häufchen Elend. Am liebsten würde sie alles aufgeben und schreiend zusammenbrechen. Warum hatte das Schicksal sich so gegen sie verschworen?
„Hey! Alles okay? Was ist denn los?“
Keigo kam angerannt, als er sah, dass Vanny zusammenklappte. Er kniete sich zu ihr herunter und packte sie fest an den Schultern. Sie wollte antworten, brachte allerdings kein vernünftiges Wort heraus und begann zu schluchzen. Beruhigend nahm er sie in die Arme und sie ließ ihren Tränen freien Lauf.
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„Geht's wieder?“
Der Rothaarige blickte sie besorgt an. Sie nickte peinlich berührt und nahm einen weiteren Schluck Cappuccino. Nachdem sie sich an seiner Schulter ausgeweint hatte, hatte er sie erst einmal auf einen Kaffee eingeladen und sie hatte ihm ihr Telefonat geschildert. Sie saßen in einem sehr einfach und rustikal eingerichteten Bistro mit einer geblümten Tapete. Genau dieses "Großmutter-Flair" machte es gemütlich und Keigo hatte recht: Der Kuchen war himmlisch und eine Sünde wert.
„Danke dir. Wirklich. Danke für alles. Du bekommst das Geld zurück. Heute ist nur so ganz und gar nicht mein Tag.“
Er winkte abermals ab.
„Ich hab doch gesagt, dass es in Ordnung geht. Gönn es mir doch, denn wann hab ich hier schon mal die Möglichkeit, ein hübsches Mädel einzuladen?“
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