extrem ...“
Einen kurzen Augenblick lang meinte Vanny, einen traurigen Schleier auf Ninas Gesicht erkennen zu können. Doch bevor sie nachhaken konnte, sprach die andere schon weiter.
„Weißt du, wir drei haben alle eine Gemeinsamkeit: Wir haben keine richtigen Eltern mehr. Keigo lebt bei seinen Großeltern, Enjoji wurde adoptiert und ich wohne hier bei meiner Tante.“
Überrascht blieb Vanny stehen. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Auch Nina hielt inne und bedachte sie mit einem leichten Lächeln.
„Nein, so war das nicht gemeint. Jetzt guck doch nicht so mitleidig. Das brauchst du echt nicht. Wir finden es alle gut, so wie es ist. Ich habe meine Tante wirklich gern und würde ich vor die Wahl gestellt werden, ob ich zu meiner Mutter ziehen oder hier bei meiner Tante bleiben möchte, dann würde ich Letzteres tun. Ich kann mich auch gar nicht mehr an sie erinnern, an meine Mutter, meine ich.“
„Aber vermisst du sie denn nicht? Hast du denn mit deinen Eltern Kontakt?“
Die Blondine schüttelt den Kopf.
„Nein, meine Mutter hatte mich bei meiner Tante abgegeben, als ich fünf Monate alt war. Einen Vater gab es offiziell nicht. So hat es mir meine Tante erzählt. Klar war ich öfters traurig, auch heute noch ab und zu. Manchmal, weil eben öfter die Frage in mir auftaucht, warum sie mich nicht wollte und will, ob sie wohl noch weiß, dass es mich gibt. So Fragen gehen mir dann durch den Kopf. Aber es wird wohl einen Grund geben, dass es so gekommen ist, denn nichts auf dieser Welt geschieht ohne Grund, auch wenn dieser für uns nicht immer offensichtlich ist.“
Vanny war sprachlos. Wie konnte Nina das nur so ruhig und gelassen sagen, wo ihr doch beim Zuhören schon fast die Tränen liefen? Sie bewunderte ihre Freundin. Sie schien so viel stärker und zuversichtlicher zu sein als sie selbst. Vor allen Dingen empfand sie ihre Offenheit als etwas Besonderes. Wo nahm sie nur dieses Vertrauen her? Sie würde gerne mit Nina über ihre Probleme und Ängste sprechen, doch sie traute sich nicht. Selbst mit ihrer besten Freundin Katrin hatte sie nie richtig über ihre Gefühle und Gedanken reden können. Irgendwie schien ihr das Urvertrauen zu fehlen.
„Weißt du was“, meinte Vanny, „ich finde dich echt stark!“
Erst blickte Nina sie etwas verblüfft an, dann fingen plötzlich beide an zu lachen. Ausgelassen miteinander sprechend gingen sie weiter, bis Vanny auf ihre Uhr sah und bedauernd feststellte, dass sie zurückmusste, um das Abendessen zu kochen. Nina ließ sie hinten aufsteigen und fuhr mit ihr zurück. Der Abschied fiel Vanny besonders schwer, denn am liebsten wäre sie mit ihrer Freundin ins Dorf gefahren, doch das war nicht möglich. Sie umarmten sich, dann schlenderte Vanny auf das alte Haus zu, als Nina sie noch mal zurückrief.
„Warte! Hier, ich schreib dir meine Adresse auf. Wenn irgendwas ist oder ich dir irgendwie helfen kann, ruf mich an, meine Nummer hast du ja, oder komm einfach vorbei. Bitte versprich mir das!“
Vanny nickte bejahend, doch fraß sie die Sorge von innerlich auf. Schweren Herzens betrat sie das Haus.
*
Das Abendessen war problemlos vonstattengegangen. Sie hatte einen Käse-Curry-Salat gemacht und dazu Baguettes aufgebacken. Ihr Onkel schien nicht wirklich begeistert gewesen zu sein, doch er hatte keinen Ton verlauten lassen. Ihr selbst war nicht sehr nach reden zumute und so herrschte eine drückende Stille während der gesamten Mahlzeit. Sie erledigte schnell den Abwasch und zog sich sofort in ihr Zimmer zurück, nachdem sie sich kurz im Bad fertig gemacht hatte. Nicht einmal die heiße Schokolade, die er ihr zubereitet hatte, hatte sie ausgetrunken. Im Bett zusammengekuschelt las sie noch ein bisschen und versuchte, sich so etwas abzulenken, jedoch ohne Erfolg. Es war mucksmäuschenstill, kein Laut war zu hören. Vanny lag noch lange wach und lauschte in die Dunkelheit, bis sie endlich einschlief. Jedoch schreckte sie immer wieder von Albträumen geplagt auf und wälzte sich von einer Seite auf die andere, bis schließlich ihr Wecker klingelte und sie von der furchtbaren Nacht erlöste.
Kapitel 6 - Tag 4 - Donnerstag
Erschöpft schleppte sie sich in das Badezimmer und danach in die Küche, deckte den Frühstückstisch und setzte Kaffee auf. Genau in dem Moment als der schwarze Muntermacher - wie ihr Vater zu sagen pflegte - gerade fertig wurde, kam Ernst. Ohne ein Wort an sie zu richten, schenkte er sich eine Tasse davon ein und wollte gleich wieder verschwinden, als sie Ernst kurz anhielt.
„Guten Morgen. Eine Frage, Onkel, wie sieht es eigentlich mit deinem Zimmer aus? Ich … ähm …. also …“
Mist, was stammelte sie da eigentlich zusammen?! Innerlich verfluchte sich die Jugendliche selbst. Er sah sie finster an, als wolle er sie wie ein Riese in die Hand nehmen und mit bloßer Kraft zerquetschen. Unsicher rutschte sie auf ihrem Stuhl unter seinem zermalmenden Blick hin und her.
„Ich meine doch nur, ob ich es putzen soll?“
„Mach es halt sauber!“, raunzte er sie barsch an und wandte sich gleich wieder von ihr ab. Eilig und so schlecht gelaunt, wie er gekommen war, verließ er die Küche. Vanny versuchte, ihren immer stärker werdenden Missmut zu unterdrücken, gab den Widerstand jedoch nach ein paar Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, auf. Der Appetit war ihr gründlich vergangen, deswegen warf sie wütend den Rest ihres fast nicht angerührten Frühstückes weg und richtete das Putzwerkzeug für die bevorstehende Arbeit.
*
Als sie die Tür zum Schlafzimmer ihres Onkels öffnete, kam sie aus dem Staunen nicht mehr heraus. Dieser Raum war das komplette Gegenteil zu der ihr zugewiesenen Kammer. Es war zwar auch recht klein, doch hatte es geschätzt bestimmt 5m² mehr zu bieten. Auch hier waren die Möbel aus altem Holz, allerdings waren diese mit zarten und verspielten Schnitzereien verziert, ganz im Gegensatz zu ihren, die mit Kratzspuren übersät waren. Die Möbel hatten einen charmanten und antiken Touch, was sich auf das ganze Zimmer auswirkte. Sein Bett war ordentlich gemacht, auch die Bücher auf dem kleinen Schreibtisch waren fast schon pingelig und akkurat aufgereiht. Doch die dicke Staubschicht, die alles in diesem Raum bedeckte, ließ alles unecht, wie aus einem Traum erscheinen. So, als würde sich das Szenario nach nur einem Augenschlag wieder auflösen. Wofür auch immer er dieses Zimmer benutzen mochte, sie konnte sich nicht vorstellen, dass er in diesem Raum tatsächlich schlief! Der Staub wies keinerlei Fingerabdrücke oder Sonstiges auf. Vorsichtig untersuchte sie jeden einzelnen Quadratmeter - auf der Suche nach Gebrauchsspuren. Nichts. Sie konnte keinen einzigen Hinweis finden. Zu gleichmäßig lag der Staub über den Oberflächen verteilt. Warum log ihr Onkel sie offensichtlich an? Seufzend griff die Jugendliche nach dem Staubtuch und machte sich erst mal daran, zu wischen und das Zimmer gründlich durchzufegen. Sie wollte nicht über Probleme nachdenken. Irgendwie fiel ihr das in letzter Zeit schwer. Nach getaner Arbeit öffnete sie das Fenster zum Lüften, nur um festzustellen, dass auch das Fenster schon eine sehr lange Zeit kein Wasser mehr gesehen hatten. Abermals seufzend holte sie neue Tücher und den Glasreiniger aus dem Schrank, wechselte das Putzwasser, um die Fenster zu säubern. Wie konnte man sein Haus nur so verkommen lassen? Sie selbst war ja auch nicht unbedingt ein Fan von großer Reinlichkeit, aber das ging definitiv zu weit. Nachdem Vanny das schmale Fenster geputzt hatte, wischte sie nochmals behutsam über den mit verschnörkelten Verzierungen übersäten Holzkleiderschrank. Dabei beschlichen sie die Neugier und der Wunsch, einen kurzen Blick hineinzuwerfen. Schließlich gab sie ihrem Drang nach. Beim Öffnen kam ihr ein süßlicher Geruch von altem Parfum entgegen. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. Der Kleiderschrank ihres Onkels war voller bunter und mit Spitze benähter Mädchenkleider. Was hatte das zu bedeuten? Sollte das alles ein schlechter Scherz sein? Warum bewahrte ihr Onkel diese Kleider auf? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er diese selbst trug oder je getragen hatte. Wieso log er sie wegen eines Zimmers an? Was mochte er noch vor ihr verheimlichen? Und vor allen Dingen: Warum? Ein ungutes Gefühl beschlich sie und biss sich in ihr fest wie eine Zecke in das Fleisch seines Opfers.
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