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Nach etwa zwei Stunden war sie fertig. Nachdem sie sich geduscht und eine Kleinigkeit zu Mittag gegessen hatte, packte sie kurz entschlossen ein bisschen Obst ein, schnappte sich den Zweitschlüssel, der im Flur offen hing, und ging spazieren. Sie nahm den Weg in die entgegengesetzte Richtung zum Dorf, welcher sie in einen Wald führte. Zuvor war sie eine Weile durch ein Feld voller Kornblumen gelaufen. Das Wetter war herrlich, die Sonne schien heiß auf sie nieder und im Schutz der Bäume des grünen Waldes war es angenehm kühl. Vanny hing ihren Gedanken nach, während sie der Duft von Laub und wilden Gräsern sanft einlullte. Was ihre Freundinnen wohl gerade machten? Hatte gestern die Party bei ihrer besten Freundin Katrin stattgefunden und war ihr Schwarm Gil dort aufgetaucht, wie erhofft? Noch einmal kramte sie nach ihrem Handy, jedoch hatte sie auch hier keinen Empfang. Leise seufzend steckte sie das kleine Mobiltelefon zurück in ihre Tasche. Sie war völlig von der Außenwelt abgeschnitten und wieder machte sich unaufhaltsam ein Gefühl der Einsamkeit in ihr breit. Wo waren ihre Eltern gerade? Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie gar nicht wusste, wo genau sie hingefahren waren. Sie ging noch einmal alles gedanklich durch, doch konnte sie sich nicht daran erinnern, dass ihre Eltern dies in irgendeiner Weise erwähnt hatten. War das Vertrauen in sie nun ganz verloren oder war dies nur im Stress untergegangen? Das war doch aber nicht normal und ungefährlich schon gar nicht! Wie sollte sie denn ihre Eltern erreichen, falls irgendetwas passieren sollte? Ihr Handy konnte sie ja wohl vergessen. Überhaupt, sie hatten sich bis jetzt noch kein einziges Mal bei ihr gemeldet. Immerhin hatte ihr Onkel wohl irgendwo im Haus ein Telefon, sonst hätte ihre Mutter auch nicht die Unterkunft organisieren können. Ob Ernst es vielleicht einfach nur vergessen hatte zu erwähnen, dass ihre Mutter oder ihr Vater versucht hatten, sie anzurufen? Immerhin hatte er ja kaum mit ihr gesprochen und sie konnte sich gut vorstellen, dass ihm so etwas entfallen war, weil er es nicht für wichtig und eventuell störend in seinem Einsiedlerdasein empfunden hatte. Doch warum sagte ihr Unterbewusstsein etwas ganz anderes, das ihr gar nicht gefiel? Und warum kamen ihr so plötzlich die Tränen, dass sie heulte wie ein ausgesetzter Hund?
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Das Essen war gerade fertig, als Ernst die Küche betrat. Wie nicht anders erwartet, blickte er mürrisch drein und schwieg. Freundlich begrüßte die Jugendliche ihren Onkel und stellte das Brot mit dem selbst gemachten Brokkolisalat und den warmen Würstchen auf den Tisch. Er nickte ihr nur kurz zu und musterte misstrauisch den Salat mit einem Blick, der gleich verriet, dass er ihm nicht gefiel. Dennoch aß er alles mit gutem Appetit, ohne eine Miene zu verziehen. Vanny hingegen bekam kaum etwas herunter. Zu viele Gedanken und Sorgen kreisten in ihrem Inneren und schlugen ihr auf den Magen. Die Fragen vom Mittag ließen sie einfach nicht in Ruhe und schienen sie aufzufressen. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und fragte zaghaft mit zittriger Stimme:
„Haben sich meine Eltern in der Zwischenzeit gemeldet?“
Er hielt kurz inne und starrte sie ausdruckslos, fast wie ein Toter, an, sodass ihr ein Schauer über den Rücken lief, und legte sein Besteck beiseite.
„Nein, haben sie nicht“, antwortete er kurz angebunden mit einem genervten Unterton und musterte sie eindringlich. Enttäuscht blickte sie auf ihren noch fast vollen Teller und verkeilte ihre Finger unter dem Tisch ineinander. Ihre Befürchtungen waren somit bestätigt und ein dicker Klumpen schien in ihrem Hals zu stecken. Die Lust zum Essen war ihr nun endgültig vergangen. Ernst stand auf und rührte ihr eisern schweigend eine heiße Schokolade zusammen.
„Trink das, dann geht es dir besser ... Sie haben bestimmt viel zu tun.“
Mit diesen Worten ging er und ließ die traurige Jugendliche alleine zurück. Sie kämpfte gegen die erneut aufsteigenden Tränen und nippte an dem warmen Getränk. War ein Telefonat denn zu viel verlangt? Ein einziger Anruf? So beschäftigt konnten ihre Eltern doch gar nicht sein, dass sie sich nicht einmal fünf Minuten Zeit nehmen konnten. Nein … wenn sie wollten, dann würden sie bestimmt etwas Zeit für ein kurzes Gespräch erübrigen können. Sie biss sich schmerzhaft auf die Unterlippe, verfluchte sich und ihr gesamtes Leben.
Kapitel 5 - Tag 3 - Mittwoch
Vanny hatte gut geschlafen und freute sich auf eine Tasse Kaffee. Deswegen war sie gleich aufgestanden und hatte alles für ein gemütliches Frühstück gerichtet. Sie goss sich soeben eine Tasse des heißen, duftenden Muntermachers ein, als ihr Onkel mit blitzenden Augen und stecknadelgroßen Pupillen durch die Tür schlurfte. Sein Blick war grimmig wie zuvor, sein Gang schwerfällig, so stapfte er murrend zum Kaffee, nahm sich eine Tasse und ging, ohne ein Wort an die Jugendliche zu richten, wieder aus der Küche. Ausdruckslos hatte sie alles beobachtet. Höflich fand sie es nicht gerade, aber da war wohl nichts zu machen. Ernst schien ein richtiger Morgenmuffel zu sein. Immerhin hatte er anscheinend gegen Abend bessere Laune. Sie verputzte gemütlich ihr Frühstück, verrichtete eine Katzenwäsche und zog sich schleunigst um. Für heute hatte sich Vanny das Badezimmer vorgenommen, und dies wollte sie besonders gründlich reinigen, weil sie sich zur Belohnung im Anschluss ein Entspannungsbad gönnen wollte. Zuerst schrubbte sie das total versiffte Waschbecken, was ihr den Schweiß aus den Poren trieb, bis sie endlich ein akzeptables Ergebnis erreichte. Nach einer kurzen Pause wischte sie Staub und traute sich zuletzt an das größte Übel: die Badewanne. So eine dreckige Wanne hatte sie noch nie gesehen! Sie konnte nicht verstehen, wie jemand sein Haus so verkommen lassen konnte. Wie sollte man sich hier wohlfühlen? Ja, wie konnte sich ihr Onkel so wohlfühlen? Aber fühlte er sich überhaupt behaglich in seinem Dreck? Vanny holte noch mal tief Luft, bevor sie sich ihrer größten Herausforderung widmete: der in den seltsamsten Farbtönen erstrahlenden Badewanne, die sie sehnlichst zu erwarten schien.
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Ihr war dabei speiübel geworden, sodass sie erst einmal frische Luft hatte schnappen müssen. Es war jetzt schon Mittag, sie hatte länger gebraucht als erwartet. Er sollte ihr bloß nicht verraten, wie lange er nicht mehr sauber gemacht hatte! Abermals schossen in ihr Gefühle und Gedanken hoch, die sie so nicht haben wollte. Sogar eine kleine Träne bahnte sich den Weg über ihre Wange. Schnell wischte Vanny sie beiseite und ging in ihr Zimmer, um nach den kleinen Duftkerzen, die sie zum Glück eingepackt hatte, und den Badeperlen zu kramen. Ausgestattet mit ihrem Entspannungsaccessoire lief sie in das nun glänzende Badezimmer und ließ warmes Wasser in die große Wanne laufen. Behutsam platzierte sie die Kerzen auf und um die Badewanne herum und schloss dann die Tür zu. Badeperlen und Kerzen verströmten einen wohltuenden Geruch von Vanille, und das Plätschern des Wassers ließ sie langsam zur Ruhe kommen. Sie entkleidete sich eilig und stieg in ihr präpariertes Wohlfühlbad. Der Druck und ein Teil ihrer Anspannung schienen von ihr abzufallen. Entspannung kehrte in ihren Körper ein, vertrieb die Sorgen der letzten Tage und Vanny schloss erleichtert die Augen. Jetzt fehlte nur noch Musik, um alles perfekt zu machen, doch das war nicht so schlimm. Die vergangenen Tage gingen ihr nochmals durch den Kopf. Ihr Onkel, das Haus, der Dreck, ihre Eltern, Nina und die anderen ... doof, dass sie sich nicht gleich mit den Teenagern fest verabredet hatte. Sie würde sie wirklich gerne wiedersehen. Womöglich konnte sie am nächsten Tag probieren, sie im Dorf zu treffen? Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.
Was war eigentlich mit dem Zimmer von ihrem Onkel? Sollte sie das auch säubern? Vanny nahm sich vor, ihn bei nächster Gelegenheit zu fragen, auch wenn ihr davor graute. Ihr Onkel war ihr einfach nicht geheuer.
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