Kevin Coyne
„Tough and sweet” (1994)
27 Alben lang haben wir jede Scheiße mitgekriegt, die ihm passiert ist. Weil Coyne authentisch ist bis zur Verletzung der eigenen Intimsphäre. Er hat die Psychiatrie überstanden (als Pfleger), den Alkoholismus überlebt (als Säufer) – und den Blues behalten. Coyne, der hyänenhafte Sänger seiner Psychosen und Delirien, ringt seinem Leben weitere 70 Minuten Liedgut ab: minimalistische Reibeisensongs, versöhnlicher als in den dunklen 80ern, doch genauso eckig, kratzig und ungehobelt. Es sind schlichte Liebeslieder („Precious Love“), ironische Rock’n’Roll-Hommagen („Elvis is dead“), pulsende Popstückchen, kleine pathetische Hymnen und trockener Rhythm’n’Blues – die reinste Lebensphasenschau, aber mit frischem Material. Die schlichte Erkenntnis unseres Psychobluesbarden: „Money doesn’t mean a thing, this Mercedes Benz could never be your friend.“ Und auch das ist authentisch.
Lone Kent
„Granite & Sand” (1994)
Schließt die Augen. Stellt euch flackernde Windlichter vor. Und Weidezäune im weiten amerikanischen Westen aus krummen elektrischen Drähten, die sirren im Hauch einer Präriebrise. Lone Kent spielt Gitarre für dieses Bild: Sein flirrender, ferner Ton erinnert an Ry Cooder, doch verfolgt Kent eine ureigene Klangvision. Sie speist sich aus den Stimmungsbildern des Country, und der Kanadier verwebt sie mit einem flüsternden, schamanisch beschwörenden Gesang – wie ein Mix aus den Stimmen von Nick Drake und Donovan. Ambientcountry? Lone Kent jedenfalls trifft einen eigenen Ton. Und das passiert im Pop alle Jubeljahre einmal.
Madder Rose
„Panic on” (1994)
Die Sängerin Mary Corsen möchte man kräftig schütteln, auf dass sie wieder ganz zu sich käme. Manchmal besorgt das ihre Band für uns – etwa im kurzen, schnellen „Drop a Bomb“ oder im Neowaver „Ultra Anxiety“ –, doch gemeinhin will sie ihre schlaftrunkene Frontfrau mit der Elfenstimme nicht stören, sondern legt ihr eine dichte pralle Gitarrenmatratze unter. Trotzdem lassen sich Madder Rose schlecht in die Ecke des entrückten Shoegaze im Stil von Moon Seven Times oder Slowdive rücken; ihre Heimat liegt in einer Zwischenwelt, auf halbem Weg zwischen Schlaf und Erwachen. Doch Morpheus kehren sie den Rücken zu, um den Rock’n’Roll nicht aus den Augen zu verlieren.
Als der Punk 1976 den saturierten Kunstrock zermalmte, schienen die Tage der Supergroups gezählt – zumal nach Peter Gabriels Weggang sogar Genesis rasch verpoppte. Nostalgie freilich sehnt sich auch nach Neuem, wenn es nur die alten Kleider trägt; so schlug bald die Stunde der Epigonen, deren Gunst Marillion am erfolgreichsten nutzte. Die Demission des Frontmanns Fishs stellte 1988 die Restband vor die Richtungsfrage. Unterm neuen Chef Steve Hogarth wählt sie nun die Flucht zurück, hin zum großen Konzeptopus, zum artrocküblichen Spiel mit der Dynamik, in dem Wucht und Poesie, lyrische Saitenmalerei und pathostrunkene Klangflächen miteinander kämpfen und verschmelzen; ein Spiel, das die Spontaneität des Rock’n’Roll kaltherzig auf dem Altar der Kunstfertigkeit opfert. Die hohen Soundwälle von „Brave“ umbauen ein abgedroschenes Thema (Identitätsverlust) und wollen klingen wie Genesis’ Hauptwerk „Lamb lies down on Broadway“. Diesem kopiegenauen Akt reiner Epigonalität fehlt indes ein designierter Hit wie „Carpet crawl“. Zeitgleich hält Fish den alten Feinden ein songorientiertes Livealbum („Sushi“) entgegen, voll mit synthetischen Bläsern und seelenvollen Gitarren, mit pumpenden Drums, Gabriel-Touch und dem unbedingten Willen, bei MTV zu landen. Er ist besser beieinander als zuletzt beim laschen Studioalbum – und trotz eines Hangs zur großen Geste weit weniger verquast als Marillion. Wiedervereinigung? Unwahrscheinlich.
„Wenn sie mal mein Leben verfilmen“, sagt Meat Loaf, der so heißt, weil er aussieht wie ein aufgepumpter Hackbraten, „dann soll Michael J. Fox mich spielen.“ Solch sarkastischer Umgang mit der eigenen Unattraktivität kommt auch live zum Tragen. Der anfangs in Anzug und Rüschenhemd steckende frischgefönte Klops verwandelt sich im Lauf einer Konzertstunde genüsslich zum schweißtriefenden, sabbernden Glubschaugenmonster, das strähnenhaarig Drohgesten schleudert und in eklem Tète-a-Tète mit einer leichtgeschürzten Sexbombe rummacht. Im Wortsinn saftiger, ekstatischer Rock’n’Roll also, den das reservierte Wembley-Publikum offeriert bekommt. Leider gilt das nur für die Musik, denn optisch gibt sich das Video ausgesprochen bieder. Zoom vor, Zoom zurück, mal eine Pose, die einfriert – Ästhetik der 70er Jahre. Sollte aber nicht verschrecken.
Mucky Pup
„Lemonade” (1994)
Es hat seine Vorteile, wenn das Line-up schneller wechselt als der Drummer die Stöcke: Man nimmt sich nicht so wichtig. Mucky Pup ist identisch mit Chris Milnes, der Rest ist disponible Masse – und hat gar nicht die Zeit, Allüren auszubilden. So strickt Milnes sich seinen halbherzigen, doch knallharten Crossover in Eigenregie zusammen, packt seine Stimme in den metallischen Sound wie in Stahlwolle. Und am Ende, wenn man nach 20-minütiger Leerrille mit nichts mehr rechnet, lässt er die sentimentale rosa Sau raus: eine zuckrige Ballade für alle, die sich tapfer durch Gewitter und Stille kämpften.
Neil Young & Crazy Horse
„Rust never sleeps” (1994)
Die Szenerie: Bühne im Schummerlicht, huschende Gnome in rostbraunen Mönchskutten, glühende Augen. Ein weißgekleideter Jüngling mit schlechter Haltung und Gitarre tritt auf und singt ein Lied von Utopia: „Sugar Mountain“. Später werden ihn die Volldampfrocker von Crazy Horse auf den Boden der (Gitarren-)Realität zurückholen … Ja, Neil Youngs 78er-Konzept brachte die melancholischen Folkattitüden seiner frühen Jahre mit der Schrottästhetik des Punk zusammen. Ein kühner Spagat, der ihm das Bekenntnis „I am a Child“ genauso ermöglichte wie die Vergötterung Johnny Rottens („Hey hey my my“). Das war zweifellos die Initialzündung dafür, was später unter den Labels Noise und Grunge boomen sollte. Gegenüber der Platte „Live Rust“, die das gleiche Konzertereignis repräsentiert, wartet der Film übrigens mit einem zusätzlichen Stück auf: „Welfare Mothers“.
Neil Young & Crazy Horse
„Sleeps with Angels” (1994)
Schon oft bezog Neil Young seine Themen aus Erfahrungen des Todes, und seine besten Alben (wie „Tonight’s the Night“ von 1975) verarbeiteten Schocks. Auch seine neue CD ist so – eine offene Wunde. Unterm Eindruck von Kurt Cobains Tod versammeln die meditativen Songs Szenen von Verlusten – an urbaner Sicherheit, an Liebe und Leben. Skizzen ohne Geschichten, eindringliche, manchmal episch lange Klangzustände im Bluesduktus, welche die Rockurviecher Crazy Horse in eine verhaltene Stille zwingen. Den Vulkanausbruch gestattet Young ihnen nur in „Piece of Crap“ – wofür sie sich dann bei Ian McNabb schadlos halten. Drei Songs nahm der Exsänger von Icycle Works mit Crazy Horse auf, und nun ersäuft der Arme in diesem Sound aus Sägezahngitarren und gepeitschten Drums. Für den Rest der CD übernimmt leider er das Kommando, was dann überwiegend im soßig Seichten endet. Eine CD, deren seltsam extremes Spektrum nicht Stärke verkörpert, sondern Orientierungslosigkeit.
Nick Cave & The Bad Seeds
„Let Love in” (1994)
Liebe ist der Himmel, Liebe ist der Abgrund. Am Anfang fragt er besorgt, aber im Bewusstsein, selbst einen Trumpf im Ärmel zu haben: „Do you love me/like I love you?“. Am Ende spart sich Cave den Vergleich, es regiert die lauthalse panische Verlustangst: „DO YOU LOVE ME?“. Dazwischen liegen acht Songs, in denen der Australier das Thema erschöpfend und bis zur Erschöpfung auslotet. Conway Savages Klavier- und Orgelspiel gibt manchen Songs (wie „Red right Hand“ oder „Do you love me?“) eine bebende Spannung, die man zuletzt vor fast einem Vierteljahrhundert im Doors-Klassiker „Riders on the Storm“ gehört hat. Dazu raunt die Band einen romantisch-morbiden Backgroundchor. „Thirsty Dog“, ein makabrer Gruftcountry, schraubt sich – angespornt von überdrehten Drums und Caves manischem Gesang – hoch in eine Spirale des Irrsinns. Und die Ballade eines Verlassenen, „Ain’t gonna rain anymore“, ist keine tränenreiche, selbstverliebte Klage, sondern Ausdruck einer Lähmung, eines Betäubtseins jenseits von Schmerz und Wut. Caves Metaphorik spielt dabei mit dem eigenen Image genauso wie mit tradierten Popklischees: Bill Withers verglich umfassendes Liebesleid noch mit dem endgültigen Rückzug der Sonne, Cave kehrt das Bild ins Gegenteil – der Regen versiegt für immer. Eine Platte mit mächtigen dunklen Sounds, voll großer Gefühle und Gesten – so intensiv wie eine Stunde im Himmel und eine in der Hölle.
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