Sultans Of Ping f.c.
„Casual Sex in the Cineplex” (1993)
Man nehme einen Schuss Ramones (ohne deren euphorisierende Monotonie), etwas 60er-Beat (samt fröhlich-unbedarfter Harmonika), ein wenig Velvet-Underground-Gemütlichkeit (in Form naiver Streicherarrangements) und würze kräftig nach mit reiner, nichtraffinierter Energie – Name der Kreation: Platte des Monats. Wer beim kalauernden Bandnamen der vier Briten an eine Satirecombo denkt, ist völlig schief gewickelt. SOPfc meinen, was sie spielen, auch wenn sie sich in allen aktuellen Trends zu tummeln wissen – freilich mit liebevoll-ironischem Blick auf die Wurzeln dieser Trends. Eine mit Klassesongs nur so protzende Scheibe, egal ob leichtfüßig und Beatles-artig dahintrippelnd wie in „Let’s go shopping“ oder überschnappend kirre wie im holpernden Gitarrenrocker „Where’s me Jumper?“.
The Doors
„Dance on fire/Soft Parade/Live at the Hollywood Bowl” (1993)
Der Mythos Morrison: Er lebt. Die VHS „Dance on Fire“ mischt frühe Originalclips mit nachgedrehten Szenen, „Soft Parade“ bringt späte Interviews, Backstageeinblicke und Konzertausschnitte; „Live at the Hollywood Bowl“ schließlich dokumentiert (wieder einmal) den berühmten Auftritt ebenda. Leider aber gibt es Überschneidungen, die Filme leiden unter Konzeptlosigkeit, Holpermontage und willkürlichen Zeitsprüngen – die Perlen muss man suchen, etwa eine hinter der Bühne am Klavier improvisierte Ode Morrisons an Friedrich Nietzsche. Oder eine Szene im Publikum: Jim Morrison möchte einem Händler ein billiges Who-Fanzine abkaufen – aber erst, wenn er’s sich angeschaut hat; von hinten zupfen ihm derweil verzückte Mädels an der Mähne, und er lächelt verlegen …. Fazit: Statt biografischer Substanz bruchstückhafte Skizzen. Aber es spricht für den Mythos, dass die Faszination des Lizard King dennoch durch dieses Gitternetz unverbundener Sequenzen durchscheint.
The Velvet Underground
„Velvet Redux Live MCMXCIII” (1993)
Wunder geschehen: Die einflussreichste Band der Welt ist zurück aus dem Reich der Legenden. Lou Reed ist der alte und neue Boss, auch deshalb, weil John Cales Tasten- und Bratschenspiel beim Mann am Mischpult weniger Gnade findet als Reeds Gitarre. Oma Tuckers stupid-monotones Behämmern der Drums, Sterling Morrisons schüchterne Verkrampftheit, mit der er um Fehlerlosigkeit ringt, der dichte, kompakte Sound, mit dem Velvet Underground ihr ureigenes Terrain zwischen simplen Kinderliedern und monströser Kakofonie ausfüllen: All das zeigt, dass hier keine Grufties alten Ruhm für frisches Geld hergeben. Diese Band hat (wieder) was zu sagen. Endgültiger Beweis am Ende dieses Pariser Konzertes: das bislang unbekannte „Coyote“, einer der besten Underground-Songs überhaupt.
The Walkabouts
„Death Valley Days” (1993)
„House of the rising Sun“ rockt, „Maggie’s Farm“ ist unaggressiv und Tilman Rossmys „Loswerden“ original, nämlich auf deutsch: Carla Torgerson und Chris Eckman haben die Besenkammer aufgeräumt und stießen auf allerlei Verlegtes aus zehn Jahren Bandgeschichte. Auch die Fundstücke zeigen, dass sie die geschmackssichersten Coverer weit und breit sind. Ihre Neudeutung des morgendämmerungsgrauen Neil-Young-Songs „On the Beach“ ist unbezahlbar, und wer Nick Drakes „Cello Song“ ins Repertoire nimmt, gehört eh geadelt. Ein bizarr misslungener Psychoambientrocker namens „Chain Gang“ ist da verzeihlich – zumal in Gesellschaft von „Yesterday is here“ (Waits) oder „Like a Hurricane“ (noch mal Young). 18 Songs, viele Perlen dabei.
Thomas Köner
„Permafrost” (1993)
Köner sammelt Klänge und schichtet sie zu bulligen pseudostatischen Türmen auf, zu konkreten Soundblöcken, in deren betonartiger Struktur sich alle Hinweise auf ihre Klangquellen verlieren. Seine „Musik“ ist so dicht wie das Packeis überm Nordpol und von ähnlich monumentaler Ruhe. Etwas Beängstigendes geschieht beim Hören: Man beginnt Zeiträume zu ahnen, deren maßlose Dauer jedem Leben fremd ist. Ein überwältigender und beunruhigender Gedanke, den so nur eine einzige Platte auf der Welt auszulösen in der Lage ist: diese hier. Ob sie indes mehr als ein paar Dutzend Käufer zu finden in der Lage ist, wird hier ausdrücklich bezweifelt.
Tragically Hip
„Fully Completely” (1993)
So langsam dämmert den fünf Studenten aus Ontario, welch grausame Bedeutung ihr Bandname annimmt: Tragically Hip legten vor drei Jahren mit „Up to here“ ein Debüt hin, das sie zur verheißungsvollsten Band des Jahres kürte, doch so richtig hip wurden sie auch nach dem Folgewerk „Road Apples“ nicht – tragisch, in der Tat! Die Kanadier wollen nun endlich den großen Wurf landen, sind sich dabei dennoch treu geblieben, haben auf Gimmicks und Firlefanz verzichtet – das allein macht das Quintett sympathisch, deren Sänger Gordon Downie den alten Jim Morrison im Kopf, Michael Stipe in der Kehle und Mick Jagger zwischen den Beinen hat. Das muss doch jetzt mal klappen!
Eine Sonne geht unter. Mit der zunehmenden Schwäche des Songmaterials sind U2-Kompositionen immer mehr auf elaborierte Arrangements, auf Effekte, Collagen und Samples angewiesen. Die Wichtigkeit Brian Enos für die Band wird dadurch immens: Als Produzent und Mitmusiker schmeißt er den Laden fast alleine. Manch schwachbrüstiges Lied rettet allein sein Produktionsaufwand vorm Offenbarungseid. Hatten Bono & Co. keine Zeit zum Schreiben? Beschäftigte sie ihre Mulitmediatour mehr als Melodien und Hooklines? Zu den raren aufregenden Momenten gehört der Gastauftritt von Johnny Cash, der über Enos naivem Elektropop einen zittrigen Countrysong nuschelt („The Wanderer“). Am Ende, nach 50 Minuten, verstehen wir plötzlich, was Bono meinte, als er gleich in der ersten Zeile dieses Blähwerks eine deutsche Phrase radebrechte: „Vorsprung durch Teknik“. Das scheint alles, was U2 geblieben ist.
Upset Noise
„Come to Daddy” (1993)
Fünf Jungs im Schmuddellook zeigen, wohin der Headbanger’s Ball inzwischen verzogen ist: nach Italien. „Nitro“, das Intro furioso, begibt sich nach wüster Schlägerei auf einen Heavytrip, der die Rockerlocken flattern lässt; der Powerdrummer Bonnani Stefano Bone macht den Saitenmännern ständig Feuer unterm Arsch, ehe ein ausflippender Sänger die Führung an sich reißt und sich auch von verschlagen-tückischen Breaks seines Trommlers nicht mehr beirren lässt. Aber da sind wir schon in Stück Nummer zwei und haben das Openerduo des Jahres gehört. Upset Noise servieren schnurgeraden Speedblues – als hätte man die Deep Purple der Mitt-70er auf einen Adrenalintrip geschickt: gnaden- und balladenlos.
Verschiedene Künstler
„Kuschelrock 7” (1993)
„Kuschelrock“ boomt derart, dass sich die Plattenfirma den Begriff als Markenzeichen sicherte. Wie „Lenor“. Deswegen die Anführungszeichen, wir wollen keinen Ärger. „Kuschelrock“ romantisiert, denn wo „Kuschelrock“ draufsteht, ist Bumsmusik drin. Queen eröffnen mit „Love of my Life“, denn Deutsche haben monogam zu sein. Dann aber zeigt die Zweierbeziehung, was sie zu leisten in der (Flach-)Lage ist: einem noch leicht verklausulierten „You never walk alone“ („WALK“??) folgt das explizite „I’ll be over you“ wonach es via „Stairway to Heaven“ „Tonight“ endlich zum postorgasmischen Stoßseufzer „The greatest Love of all“ kommt. Puh. Dann aber folgt die kalte Dusche: „Too much Love will kill you“. Und damit meint „Kuschelrock“ in der Tat die Liebe und nicht sich selbst.
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