Verschiedene Künstler
„Seventies Rock & Pop” (1993)
Anfang der 70er konnte man Bubblegum nicht nur kauen, sondern auch hören. Die Gehörgänge waren völlig verschleimt. Statt eines chirurgischen Eingriffs kam dann ab 1975 die Discomanie und schabte den Bubblegumschmier vom Trommelfell. Zehn Videos geben nun Auskunft über diese fröhlich-naive Popphase. Mal abgesehen von sporadischen Brutalcuts (denen etwa Mungo Jerrys „In the Summertime“ geopfert wird) versammelt der Zehnerpack unzählige Hits und Raritäten – und ist sogar gut editiert: Zu jedem Song gibt es ein paar Infos per Insert. Über „Lola“ erfahren wir, dass die BBC den Song dereinst nicht etwa wegen der versteckten Anzüglichkeiten boykottierte, sondern wegen des Textpartikels „Cherry Cola“: Man argwöhnte Schleichwerbung.
Verschiedene Künstler
„The Best of Mountain Stage Vol. I u. II” (1993)
So ist recht: Dem ganzen halblegalen Bootlegmüll von Imtrat & Co., dessen Klang-„Nie-Wo“ (Arno Schmidt) der 2001-Versand stets mit „relativ gut“ euphemisiert, dem begegnet man am besten mit CDs wie diesen – Inhalt: akustische Livehöhepunkte eines zweitägigen Festivals, das im Radio übertragen wird und daher in astreiner Abmischung vorliegt; bestritten von Acts, die eh zur ersten Sahne des Folkrock gehören und schon unplugged waren, als Kristiane Backer noch in die Windeln schiss: Loudon Wainwright III, Jesse Winchester, Richard Thompson, R.E.M., Billy Bragg … IRS beschenkt uns mit zwei weiteren Ausgaben der „Best of Mountain Stage“-Serie. Einmal folk-, einmal blueslastig, immer handgemacht – von den Cowboy Junkies bis Warren Zevon.
Verschiedene Künstler
„The Montery international Pop Festival” (1993)
Woodstock war die Apotheose vorm Ende, Monterey aber der fulminante Beginn der Flowerpower. „This is a festival for all“, stand im Programmheft vom Juni 1967, „children of all ages and adults of all attitudes“. Eine Toleranz, die das dreitägige Spektakel auch musikalisch einlöste: Jimi Hendrix spielte kosmischen Blues, Jefferson Airplane waren (dank LSD?) bös indisponiert, Ravi Shankar steuerte schicke Sitarklänge bei, Hugh Masakela fiebrigen Brassjazz – „as black as night“, schwärmte Eric Burdon später. Monterey war schwarz und weiß und bunt, die erste große Manifestation hunderttausendfacher Harmonie. Auf vier CDs liegen jetzt (größtenteils schon veröffentlichte) Teile des Festivals vor, sechs Stunden sind sie lang und verpackt in eine knallgelbe Riesenbox, der ein grandios gestaltetes Booklet beiliegt. Das Set gehört ins Regal eines jeden Fans, für den es ein geschichtsbewusstes Rockleben jenseits der Charts, fern des Tagesgeschehens gibt. Es zeigt, was der Rock’n’Roll einmal hatte – und was er später in Altamont, als beim Rolling-Stones-Konzert vor der Bühne ein Fan ermordet wurde, für immer verlor.
Willie Nelson
„Across the Borderline” (1993)
Happy birthday, Cowboy! Seit wenigen Tagen ist Willie 60 Jahre alt. Doch statt wohlverdiente Präsente entgegenzunehmen, beschenkt er uns mit seinem besten Album überhaupt. Nie war sein Bariton cooler, nie die Arrangements karger und treffsicherer als bei den Interpretationen von Gabriels „Don’t give up“ (mit Sinead O’Connor!) oder Dylans „Is this what you wanted”, das Nelson bereits bei Bobs Party im Madison Square Garden zum Höhepunkt der Nacht geriet. Und seine Nonchalance macht ihm eh keiner nach. Von so viel vibrierender, dramatischer Ruhe kann Garth Brooks nur träumen. Die vielen Leute in Nelsons Küche (Dylan, Paul Simon) haben alle unentbehrliche Gewürze beizusteuern, mit denen der Produzent Don Was ein hochbekömmliches leichtes Nachtmahl zubereitet. Das schmeckt gar nicht nach Nashville, doch gleichermaßen nach Prärie und metropolitaner Einsamkeit.
World Party
„Bang” (1993)
1985 hatte Karl Wallinger Pech im Glück. In den USA tauchte sein Song „Ship of fools“ in den Charts auf, während in Zeebrugge eine englische Fähre mit Mann und Maus absoff – keine Chance mehr auf Radioeinsätze für einen Song dieses Titels. Auch heuer liegt der Walliser mit seiner retroinfizierten Band World Party wieder quer: in England geht allmählich die Monarchie baden, und er singt was von „Let the kingdom come“ … Dürfte ihm dennoch nicht schaden, dazu ist das Album zu gut – trotz einer Hinwendung zur Hi-Tech. Doch all die synthetischen Sounds, alle Samples und hippen Rhythmen dienen dem großen Ganzen.
„Schräg und träg kriechen neun Songs durch die Membrane und schauen sich antriebslos nach Ohren um, die lange genug stillhalten – Schneckencountry mit Schönberg-Touch. Ploingg. Schrabch.“
aus der Rezension zu „Frozen“ von Souled American
Alice Cooper
„The last Temptation” (1994)
Seit Alice anno 67 von Frank Zappa entdeckt wurde, geriert er sich als Bürgerschreck, der sein Teeniepublikum mit gezielten Tabubrüchen fasziniert. Mittlerweile ist der 49-Jährige selbst der älteste Teen der Welt; um seine juvenilen Themen glaubhaft an die Jungs und Mädels zu bringen, muss er schon ein „Konzeptalbum“ vorlegen, auf dem er in die Rolle des Sandmännchens schlüpft. Flankiert wird die CD konsequenterweise von Comic und Computerspiel. Alice artikuliert zu Fräsriffs und eingängigen Refrains uramerikanische Kausalketten: „I can’t get a girl ’cause I ain’t got a car/I can’t get a car ’cause I ain’t got a job/I can’t get a job ’cause I ain’t got a car/So I’m looking for a girl with a job and a car.“ Und was zunächst als fatalistische Ironie durchgeht, wird unversehens bitter realistisch: „I can’t go to school cause I ain’t got a gun.“ Alice hat die Kniffe eben drauf. Und deshalb hat sein wirklich guter Hardrock eine eingebaute Chartsgarantie – nicht nur im Land der fatalen Kausalketten.
Archie Roach
„Charcoal Lane” (1994)
Vor zwei Jahren brachte ein Freund aus Australien einen Song mit, der jene Schlichtheit aufwies, die Meisterwerken immer eigen ist. Archie Roach sang die Suffballade „Charcoal Lane“ sanft und rau, mit der schlaffen Melancholie eines Mannes, der dem Tod nah gewesen war. Wie viele Aboriginies wurde er früh der Familie entrissen und in Pflegefamilien herumgereicht. Mit 13 war Archie ein Hobo auf Alkohol – Abschaum, der in der Gosse aufs Delirium wartete. Ihn rettete ein Lied: Jemand sang Bibelverse zu einer Hank-Williams-Melodie; Archie wurde Songwriter. Noch heute klingen seine Songs wie Hanks simple Countryweisen, doch sie handeln nicht von Erlösung, sondern von Straßendreck, von gesprengten Familien und Rassenjustiz. Und von Liebe, gefasst in naive Bilder, die so klar sind wie wahr: „Sitting here in a lonely old guest house/I’m sure that my life is all through/Scratching fleas and watching a grey mouse/I’m making love to the memory of you“. Roach ist ein flügelloser Phoenix aus der Asche, ein Mann jenseits des Hasses. Seine Songs brauchten vier Jahre von Australien bis Europa. Jetzt sind sie da.
Chainsaw Hollies
„Bob” (1994)
Vermelde: die Geburt einer großen Rockband! Mit feurigen Herzen jagen sie durch einen Haufen wunderbarer Gitarrensongs, mit naiver, rührender Emphase für Wildheit und Schönheit umarmen sie zwischen Chuck Berry und Bad Religion alle, denen der Rock’n’Roll Lebenselixier ist. Die Chainsaw Hollies lassen sich durch nichts und niemand davon abbringen, das Medium selbst als Botschaft, Lebenssinn und Spaßmittel zu begreifen. Überwältigend sind die krachenden Gitarren, das Drumgeprügel und die paradiesischen Melodien nicht für sich; es ist die überwältigende Freude der Band an all dem. Eine Platte wie ein Teststreifen: Wer darauf nicht reagiert, ist dem Rock verloren für immer. Und wen es packt, der hat seine Droge gefunden für lange. Und sie kommt – aus Dortmund.
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