Chrash Test Dummies
„God shuffled his Feet” (1994)
Seit ihrer einfühlsamen Ballade über die Probleme, mit denen der Alltag Supermans gespickt ist, gehören die Chrash Test Dummies zu Amerikas hoffnungsvollsten Folkpopbands. Nun legen sie zwölf Songs von erlesener Schönheit nach: harmonisch und poetisch, dabei so behutsam und transparent, dass die Schmalzgefahr klein bleibt. Größtes Plus der Band: Brad Roberts. Der Mann singt, wie andere Kaugummi kauen. Seine kehlig aufsteigenden Baritöne werden auf dem Weg ins Freie von Zähnen und Zunge zerknetet und zermahlen, werden hin und hergerollt und liebevoll geherzt, ehe sie endlich sonor davongleiten dürfen – ein schöner Kontrast zum hellen Sopran von Ellen Reid, die nebenbei noch an zarten Keyboardschleiern webt.
Das Weeth Experience
„Power of Love” (1994)
Feedbackorgien per Fender-Amps: Dieses Hamburger Trio hat mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Crazy-Horse-Überdosis abgekriegt und muss nun die Zerrklampfenbecquerel wieder abstrahlen – Halbwertzeit: bis zum Jüngsten Tag. Und dabei gehen sie höchst gefühlvoll vor, der Lärm gebiert die Schönheit, das Sägewerk wird mühelos zum Sumpfblütentreibhaus. In „Power of Love“ kriegen sie die Countrykurve, zerpflügen aber Sekunden später wieder den Rock-’n’-Roll-Acker, und zwischen Noiseattacken und kleinen naiven Rohdiamanten scheint es, als hätten wir – also Deutschland – endlich unsere eigenen Velvet Underground gefunden. Das Equipment jedenfalls stammt definitiv aus legendären VU-Tagen. Mindestalter: 30 Jahre.
Drive A British Car
„A Clash In The Park” (1994)
Es ist der dritte Versuch, endlich so bekannt zu werden, wie man gut ist. Und diesmal versucht es die hessische Gitarrenband live – mit 13 neuen Songs, in denen es, dank des komponierenden Frontmanns Jürgen Peters, um die essenziellen Dinge des Lebens geht – also um Kontaktanzeigen, Rassismus, Liebe und Serienmörder. Musikalisch indes fehlt alles Brachiale; DABC lieben melodiösen Gitarrenrock, den Drummer Werner Etling zum Grooven bringt. Sie bedienen sich vor allem US-amerikanischer Traditionen und verweben sie geschickt mit europäischer Melodik und Verspieltheit. Liveatmosphäre kommt nicht auf, der Beifall ist gekappt; um so mehr stehen die fein arrangierten Songs für sich selbst, und Jörg Sebald (mit Stehbass) oder Ralf Rossbach (mit pointierten, nie selbstverliebten Gitarrensoli) steuern aparte Klangfarben bei. Eine kompakte Band mit eigenständigem Stil – gut genug, um endlich bekannt zu werden.
Future Sound Of London
„ISDN” (1994)
Reizvoll an Konzerten ist stets das Unwägbare: Wie reagieren Band und Fans aufeinander? Das ist vorbei, sollte sich die Idee dieses Album durchsetzen. Es präsentiert ein Konzert, das nicht im Saal, sondern im Telefonnetz stattfand. Via ISDN-Leitung wurde es aus einem Londoner Studio nach Holland transferiert, wo es im Radio ausgestrahlt wurde. Das Publikum war anonym, die Künstler isoliert. Die einen hörten Musik ohne Livecharakter, die anderen hatten keinen Schimmer, wie sie ankam. Kein Kontakt, keine Veränderung des Ablaufs. „Live“: eine Schimäre. Vielleicht sind vorproduzierte Bänder abgelaufen, und die Musiker haben, als die Leitung stand, auf Kurzwelle Radio Amsterdam reingeholt, um sich selber zu hören. Wenn ja, hörten sie hochintelligente Computermusik mit gewitzten Samples und raffinierter Rhythmik. Aber kein Livekonzert.
Grant Lee Buffalo
„Mighty Joe Moon” (1994)
Mehr noch als auf ihrem herausragenden Debüt gestalten GLB ihre Songs zu Minidramen. Zitternd vor Ernst durchmessen sie die Gefilde von Folk, Rock und rauer Psychedelia. Was ihnen an Humor fehlt, gleichen sie aus mit kraftvollen, einprägsamen Melodien in Moll. Ihre Songs illustrieren einen spezifisch „weißen“ Zweifel am Lebenswert des Molochs Los Angeles – eine Grundstimmung wie in Lawrence Kasdans Film „Grand Canyon“, nur ohne dessen versöhnlerisches Ende. Grant Lee Buffalo haben sich arrangiert mit der kleinen, harmlosen Schwester der Depression: der Melancholie. Und die liebt den Klang des Plektrums, wenn es über die Saiten einer Akustikgitarre rutscht, sie liebt den sägenden Ton der Elektrischen, liebt die aus dem Abgrund heraufwehende Pedalsteel und die Wehmut des Cellos und die angerauten Stimmbänder von Grant Lee Phillips, einem der größten Americanasänger seit Erfindung des Mississippi.
Hamid Baroudi
„City no mad” (1994)
Der Dissidenten-Sänger desertierte in die Solokarriere und schuf einen fulminanten Mix aus nordafrikanischem Pop und westlichen Dancefloorsounds. Baroudi, in Kassel lebender Algerier, erweist sich dabei nicht nur als quirliger Gitarrist und sensationeller Sänger, sondern auch als Integrationsfigur verschiedenster Kulturen und Klänge. Wo immer jemand herkommt: So er Rhythmus hat und Gefühl oder Congas, Oud und Synthesizer und keine Dünkel, darf er mittun beim großen globalen Groove. So kamen sie herbei, die Leute aus Jemen, USA, Deutschland, Ägypten, Türkei und Mali, um ein weltumspannendes Musikkonzept zu schaffen, das von Genrecharts kaum noch erfassbar ist. „City no mad“ ist ein echtes Popalbum und Baroudi kein „algerischer Dylan“ oder „algerischer Jagger“, wie die Journaille schwärmt, sondern der Alchemist einer kosmopolitisch pulsenden Popkultur. Kauft sie in die Charts, Weltbürger!
Jam & Spoon
„Tripomatic Fairytales 2001 & 2002” (1994)
Zwei CDs auf einen Schlag: „2001“ liefert sanft entschärften Technotrance, die zweite experimentelle, hochinteressante und abgrundtiefe Ambientsounds. Das Frankfurter DJ-Duo zeigt, dass die Szene mehr zu bieten hat als hingeschlurte Billigproduktionen. Akustische Trips voller Überraschungen, bei denen einem auch schon mal ein Düsenjet quer durch den Gehörgang fegt, denen man aber auch anmerkt, dass der musikalische Background übers Reglerdrehen hinausgeht: Jam El Mar, Duohälfte, ist studierter Konzertgitarrist. Wer braucht schon Ecstasy, wenn er sich mit diesem schallgewordenen, zweieinhalbstündigen Methadon/Adrenalin-Verschnitt füttern kann – immer und immer wieder?
Jelly Roll Morton
„Jazz Tribune No. 9: The complete JRM Vol. 1/2 1926/27” (1994)
Auf seiner Visitenkarte stand: „Inventor of jazz, rags and stomps“, und wahrscheinlich war das nicht gelogen. Diese Doppel-CD überblickt die zwei Jahre nach 1925, nachdem der Pianist und Bandleader Jelly Roll Morton seinen ersten Plattenvertrag mit Victor abgeschlossen hatte. Zu hören sind meist je zwei Versionen eines Stückes in oft unterschiedlichen Tempi – reizvolle Gegenüberstellungen, die bisweilen höchst unterschiedliche Gefühlslagen reflektieren. Wer Dixie und Swing nur mit Spaß- und Suffmusik verbindet, wird von der universalen Sprache dieser frühen Aufnahmen eines besseren belehrt. Eine Schatzkiste, der BMG noch einige folgen lassen muss, will man den Vielarbeiter Jelly Roll komplett neu auflegen.
Jesus & Mary Chain
„Stoned & dethroned” (1994)
Der Rhyhtmus des Rave hallt nach in dieser Platte, wird aber durchweg in eine sanfte, fügsame Generation-X-Melancholie gezwungen – „we’ve got nothing but that’s alright“, heißt es einmal. Der Klang von JMC wird seit jeher geprägt von Hierarchien: die akustische liegt unter der Stromgitarre, der Gesang wird vom Sound nach hinten gedrängt, ist gerade diesseits des Flüsterns und dennoch dominant. Doch die traditionellen aggressiven Ausbrüche sind auf „Stoned & Dethroned“ verschwunden, und der gefallene Engel des Suffs tritt auf: Shane McGowan. Ein Entthronter und Gesteinigter findet Asyl auf dieser Platte – eine müde, vielsagende Geste.
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