Mit einem Seufzer der Enttäuschung warf Keppler die Palette zur Seite. „Ich bin ein Stümper“, sagte er traurig, „denn ich stehe ratlos vor der Natur. Mir fehlen die rechten Töne für Ihr farbensattes Bild, Madonna Diavolina!“
„Zinnober, Meister, viel Zinnober, Karmin und Ocker“, scherzte die Sängerin. „Um Sie damit rot anzutünchen wie den Hans Styx im Orpheus! Ja, wenn ich allein vor dem Bilde stehe, dann sieht mein Auge diese Übergänge vor sich, dann weiß ich, wie Ihr weißer Nacken, Ihr Antlitz sich hervorheben muss aus dieser Flut von Rot und Gold. Stehen Sie selbst aber neben dem Bilde, so möcht' ich schier verzweifeln, denn dann verwirren sich die Begriffe – ich werde farbenblind!“
„Das macht, weil Sie mit dem Kopfe begonnen haben –!“
„Nein, Ihre Augen machen das“, rief er heftig. „Ich war ein Tor, Ihre Stellung so anzuordnen, dass Sie mich ansehen mussten – mit diesem Ausdruck ansehen mussten!“
Sie lächelte gezwungen.
„Ich werde an eine weidende Gänseherde denken“, sagte sie, „vielleicht verändert dieses Bild den Ausdruck meiner Augen.“
„Sie spotten und haben recht“, antwortete Keppler finster, indem er die Palette wieder aufnahm. „Die Satanella muss diesen Ausdruck im Auge haben – wie wäre sonst die Rolle denkbar, die sie im Leben spielt?“
Er beugte sich nach seinem Farbenkasten, und Donna Dolores stieg auf die Empore, um ihre Stellung einzunehmen: ein halbes Abwenden der Figur, das die volle Pracht des goldigen Haarmantels zeigte, aber das Haupt zurückgeworfen mit dem Lächeln der Siegerin auf den Lippen.
„Ich bin bereit, Apelles“, sagte sie.
Keppler warf einen flüchtigen Blick auf sie und begann zu arbeiten, stumm, die Lippen aufeinandergepresst. Endlich richtete er den Blick auf sie.
„Ein schlechter Maler, der sein Modell langweilt“, sagte er.
„Sie sind verstimmt“, erwiderte Dolores, „ich kenne das. Es gibt schwarze, trübe Momente im Künstlerleben, wo uns das eigene Schaffen nicht genügt, wo wir uns gestehen, dass wir dem Ideal noch nicht nahe sind, das in uns lebt.“
Keppler erwiderte nichts. Er mischte die Farben und setzte dem Bilde einen neuen Ton auf. Prüfend trat er einen Schritt zurück und stieß dann einen leisen Schrei aus.
„Ich hab's –!“, rief er erfreut. „Ich habe den richtigen Ton gefunden, der das Goldhaar mit dem Rot des Kleides harmonisch verbindet, habe ihn gefunden, ohne dass ich ihn gerade jetzt gesucht –“
„Auch in die dunkelste Stunde dringt der siegende Lichtstrahl der Kunst“, sagte Donna Dolores, nicht ohne Vorwurf in der Stimme, „sie verlässt ihre Jünger nicht, und wenn sie verzweifeln wollen, sendet sie ihnen das Gelingen.“
„Und hier habe ich auch den goldigroten Reflex des Haares“, sagte Keppler froh. Dann trat er vor die Sängerin hin.
„Sie haben ein gutes Wort gesprochen, madonna mia, das Wort von der Kunst, der treuen Kunst. Ich hatte nicht gedacht, dass Satanella sie so tief erfasst hätte.“
Ein spöttisches Lächeln flog um ihren Mund.
„Auch du, Brutus?“, sagte sie. „Meister, Sie sind ein feiner Menschenkenner, Sie senken Ihr klares, unbeirrtes Auge so tief in die Seele und halten mich dennoch für eine jener Künstlerinnen, denen die Kunst nur ein Goldquell, ein Mittel zum Zweck ist?“
„Sie sind für mich ein Diamant, der in hundert verschiedenen Facetten strahlt, Donna Dolores, jeden Tag in einer andern. Sie sind ein Rätsel, das ich noch nicht zu lösen vermochte, das verschleierte Bild von Sais, das ich so gern enthüllen möchte – wenn ich nicht davor scheute. Ich fürchte, es könnte eine entsetzliche Wahrheit bergen.“
„Den Pferdefuß“, schloss sie spöttisch.
„Ja, wenn Sie diesen Ton anschlagen, könnte man daran glauben“, erwiderte Keppler, indem er weit ermalte, „das ist der rechte Satanellaton. Und mir ist's lieber, Sie schlagen den an, denn gegen ihn finde ich immer noch eine Waffe, die Waffe des Zweifels an Ihnen.“
„Daran tun Sie recht“, erwiderte sie kaltblütig.
Er sah voll zu ihr empor. „Sie nennen mich einen guten Menschenkenner – Sie haben unrecht, Madonna. So oft ich das Rechte in Ihnen gefunden zu haben glaubte, so oft fühle ich mich betrogen. Ich weiß nicht, ob Sie sehr edel sind oder sehr böse.“
„Sehr böse“, sagte sie lächelnd und sah zu ihm hinab, eine Welt voll Mutwillen in den Augen.
Keppler warf die Palette aufs neue hin und trat mit gekreuzten Armen vor Dolores. In seinem scharf geschnittenen bartlosen Antlitz arbeitete eine mächtige Bewegung, sein sonst so klares Auge blickte düster.
„Pausieren Sie“, sagte er, „ruhen Sie aus – inzwischen will ich Ihnen ein tolles Märchen erzählen.“
„Ein Märchen?“ Befremdet sah sie ihn an.
„Ja, ein Märchen. Oder meinen Sie, es geschehen keine Dinge mehr auf Erden, die Märchen genannt werden? Nur gibt es Märchen für kleine und Märchen für große Kinder.“
„Wohlan, ich höre!“
Donna Dolores trat von dem Hochsitz herab und setzte sich in einen der altertümlichen Sessel, wie sie in allen Arten im Atelier standen. Keppler lehnte sich gegen einen Pfeiler.
„Es war einmal ein armer Bauernjunge“, begann er, nachdem er seine Bewegung etwas bemeistert, „der musste die Ziegen und Gänse des Dorfschulzen hüten, von früh bis spät. Und während sich seine Schützlinge mit lautem Meckern und Schnattern an den grünen Halmen und Kräutern labten, lag der arme Junge in seinen zerrissenen Kleidern im Riedgras und träumte mit offenen Augen von einer fremden, schönen Welt, die seine Seele ahnte, aber nicht begriff. Eines Tages musste er in die Stadt laufen mit einer Botschaft – sie betraf kuhwarme Milch für die brustkranke Frau eines großen Malers, und der Junge stürmte mit seiner Botschaft direkt ins Atelier des Meisters. Mit weit offenen Augen stand der Gänsehirt vor der Herrlichkeit, die im Goldrahmen auf einer Staffelei vor ihm lehnte, und er vergaß die Ziegen, die Gänse, die Milch. Acht Tage später lief der arme Junge seinem Brotherrn davon, zu dem großen Maler; er möge ihn um Himmels willen bei sich aufnehmen und zu seinem Schüler machen. Zum Glück für ihn war der Maler ein Menschenfreund mit tiefem Blick; er erkannte, was unter den rohen Schlacken dieser Seele schlummerte. Er läuterte sie und lehrte selbst den Knaben – und ehe er starb, legte er den ersten Lorbeerkranz um die Schläfen des Schülers. Der aber schritt weiter auf seiner Ruhmesbahn, unaufhaltsam, aber einsam. Bis plötzlich eine Fee aus dem Dunkel hervortrat – das heißt, er hielt sie für eine Fee – und spann sogleich ein Netz von goldroten Haarfäden um sein Herz – ein Netz, das er nicht zu zerreißen vermochte –“
Keppler brach ab und schlug die Hände vor sein Antlitz – er stöhnte laut.
Dolores war blass geworden.
„Es war nur ein Irrlicht, das Ihnen wie eine Fee erschien“, sagte sie, sich erhebend.
Da trat er ihr entgegen und fasste ihr Handgelenk, um sie am Gehen zu hindern.
„Es war eine Fee“, rief er fast flehend, „o nehmen Sie mir nicht diesen Wahn! Dolores, ich bin nicht mehr jung – über vierzig Jahre bin ich durchs Leben gepilgert. Und wenn ein Mann in diesen Jahren liebt, dann liebt er zu mächtig, um seine Liebe ersticken zu können. Woran ich jahrelang nicht gedacht, jetzt will mir's nimmer aus dem Sinn – jetzt sehe ich durch die Räume meines Hauses eine Künstlerfrau schweben, eine Künstlerfrau wie zu Tizians Zeiten mit goldrotem Haar und dunklen Augen. Glauben Sie an solche Träume, Dolores?“
„Nein“, sagte sie tonlos.
„Dolores –!“
„Ich glaube nicht daran“, fuhr sie fort, „denn es gibt kein solches Glück. Ich hab' mir gelobt, mich nur dann zu vermählen, wenn's hier in meinem Herzen zu sprechen anfängt. Aber es spricht nimmer – hat noch nicht gesprochen – weil ich kein Herz habe. Wo es bei anderen pocht und glüht und pulsiert, da bleibt es bei mir kalt und still. Eine Künstlerfrau ohne Herz, das wäre ein Unglück für Ihr Haus, mein Freund.“
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