1 ...7 8 9 11 12 13 ...25 „Es war gestern schlimmer“, entgegnete der Doktor und lud den Freiherrn ein, mit ihm die Treppe hinaufzusteigen. „Der alte Herr hatte einen bösen asthmatischen Anfall, er verlangte nach dir und dem Justizrat Müller aus B. Abends verlor er das Bewusstsein, das jedoch zum Teil heute wiederkehrte. Allein ich fürchte, fürchte“ – –
Doktor Ruß schüttelte bezeichnend mit dem Kopf.
Oben an der Treppe wurde der Ankömmling von seiner Mutter begrüßt, einer stattlichen Frau, der man das Mehr der Jahre über denen des Gatten kaum ansah. Sie musste einst schön gewesen sein, aber ihre Züge waren jetzt hart, ihre kalten blauen Augen ohne Güte, und ein erkältender Zug von Hochmut lag in den herabgezogenen Mundwinkeln. Im Gegensatz zu ihrem Gatten trug sie sich einfach und unmodisch, fast nachlässig, wie man es oft bei älteren Damen findet, die einsam leben und mit der Jugend zugleich jene Nettigkeit ablegen, die ein weibliches Wesen bis ins höchste Alter hinein nicht entbehren kann.
„Guten Tag, Alfred“, sagte sie kurz, denn sie hasste Gefühlsäußerungen ebenso wie Schönfärbereien, aber ein wärmerer Strahl aus ihren kalten, durchdringenden Augen bewies, dass die Ankunft des Sohnes sie freute, infolge jenes Naturinstinkts, der – auch bei der Wölfin – Mutterliebe genannt wird. „Du siehst angegriffen aus“, setzte sie in demselben Tonfall hinzu, indem sie in das düstere Zimmer voranschritt, das sie für gewöhnlich bewohnte und auf dessen großen Mitteltisch sie eine Erfrischung hatte bereitstellen lassen.
Alfred Falkner wusste, dass die Gefühlstemperatur im Falkenhof auf dem Gefrierpunkt zu stehen pflegte. Ein derartiger Empfang enttäuschte ihn deshalb auch nicht mehr, obgleich er zu den warmfühlenden Menschen gehörte, wenn auch zu jener Spezies, die ihr Empfinden hinter der eisernen Maske des Stolzes verbergen. Dass diese Maske nicht gefallen war, durfte nicht ihm zur Last gelegt werden; er hatte eben das Hochfeuer noch nicht passiert, noch nicht in jener tauwindartigen Temperatur gestanden, die warmfühlende Menschen um sich verbreiten. Die sanftklingenden, milden Worte des Doktor Ruß hatten noch nie ein Echo in ihm wachgerufen.
Während er sich an den Tisch setzte und die gebotene Erfrischung annahm, umfasste sein Stiefvater seine Frau und küsste liebevoll ihre große, weiße Hand.
„Mein geliebtes, gutes Weib“, sagte er salbungsvoll, „es ziemt sich zu betrachten, wie der Herr die Geschicke lenkt. Dein Kind steht vor einem großen Wendepunkt seines Lebens.“
„Und ich nicht minder“, sagte sie leise, und mit fast erschreckender Leidenschaftlichkeit im Ton, die man unter dieser eisigen Hülle nicht vermutete, fügte sie hinzu: „Nach Jahren, Jahren der Abhängigkeit, der Demütigung und des Gnadenbrots!“
„Das letztere war dein Wille, geliebtes Weib“, erwiderte Ruß mit gleicher Sanftmut. „Hättest du nicht so heftig opponiert, ich hätte eine Professur gesucht und gefunden, die uns unabhängig gemacht hätte – aber die Rücksicht und der Hinblick auf deine Zukunft, Alfred, hieß uns hierbleiben und ausharren.“
„Deine Professur hätte meine Zukunft wohl kaum beeinflusst“, sagte Falkner ruhig.
„Doch – unsere Liebe zu dir gebot uns zu bleiben und dein Erbe für dich zu verwalten und zusammenzuhalten.“
Jetzt erhob sich Falkner.
„Das wäre geschehen auch ohne Erbschleicherei“, sagte er unbewegt.
Doktor Ruß hustete – dabei aber schoss ein böser Blick unter den Brillengläsern hervor auf die Reckengestalt seines Stiefsohnes, dem mit süßen Reden absolut nicht zu nahen war.
„Du bedienst dich starker Ausdrücke“, sagte er jedoch mit ruhiger Milde, so wie man es einem unbezähmbaren Kinde gegenüber zu tun pflegt.
Auf Falkners Stirn schwoll die Ader bedenklich, aber er beherrschte sich.
„Wann kann ich den Onkel sehen?“, fragte er.
„Oh, du magst gleich hineingehen“, antwortete Frau Ruß. Und ohne ein weiteres Wort verließ der Sohn das Zimmer.
„Das wird ein strenger Herr auf dem Falkenhof werden“, meinte der Doktor, indem er sein rundes Haupt sinnend wiegte.
„Eigensinnig und hartköpfig ist er, wie alle Falkner“, erwiderte sie achselzuckend. „Mir fiel nur der Ernst auf, den er diesmal in erhöhtem Maße mitgebracht – das sieht fast aus wie Schwermut.“
„Daran denkt nur dein Mutterherz, meine Liebe. Ihr Mütter nehmt oft für Schwermut, was vielleicht nur – Schulden sind“, sagte der Doktor mit leisem Lachen.
„Möglich“, entgegnete sie kühl.
Währenddessen schritt Alfred Falkner den Korridor des Südflügels entlang und bog in den östlichen Teil des Hauses ein, in dem der jetzige Herr des Falkenhofs wohnte. Während er dem entgegenschritt, sah er durch die von schlanken Säulen getragenen Spitzbogen, die die kreuzgangartigen Korridore nach innen begrenzten, in den geräumigen Hof hinab, dessen graue Mauern bis zu den steilen Giebeldächern hinauf mit Klematis, Kletterrosen und Efeu umsponnen waren. Da blühten die Rosen wie ehemals auf dem smaragdgrünen Rasen, und aus dem Brunnen mit den Delfinen, deren gewundene, sich nach oben bäumende Leiber die Freiherrnkrone trugen, rauschten die kühlen, kristallhellen Wasserstrahlen wie damals, als in der Nacht die Feengestalt mit dem goldenen Haar am Bassinrande schwebte, einen Kranz flocht und dazu sang.
Warum ihm dieses Mädchen nur immer mit der Gestalt der Sängerin der Satanella verschmolz? Er blieb einen Augenblick stehen und sah hinab in den Hof, der jetzt ganz von Sonne erfüllt war, und es kam ihm der Gedanke, ob wohl der Rosenkranz, den sie damals nach der Krone warf und der an deren Zacken hängen blieb, schon ganz zu Staub geworden sei? Ärgerlich wandte er sich ab und schritt weiter – zu welch absurden Gedanken ließ sich der Mensch doch mitunter hinreißen.
Er betrat den östlichen Frontflügel, der parallel mit dem westlichen lief und die anderen Flügel an Länge bedeutend überragte, sodass das ganze Gebäude ein längliches Viereck bildete. Hier wohnte der Schlossherr, und hier in der sogenannten Bibliothek, die aber mehr Familienarchiv war, verbrachte er den größten Teil seines Lebens mit heraldischen und genealogischen Forschungen. Aber der lange, weite Raum, dessen Bücherreihen die Familienpapiere bargen, sodass eigentlich nichts in ihm an eine Bibliothek erinnerte, war leer; die schweren dunkelblauen Plüschvorhänge der drei Bogenfenster waren herabgelassen. Den Schritt dämpfend, durchmaß Falkner den Raum und öffnete leise die ins Wohnzimmer des Onkels führende Tür – und dort, vor seinem offenen Schreibtisch saß er, die wohlbekannte, verkrüppelte Gestalt mit dem Höcker, tief in den grünen Saffiansessel vergraben, rechts und links an den Sessel gelehnt die Krücken, mit denen er sich so schnell und gewandt fortzubewegen verstand. Aber das gelbe, vertrocknete, hässliche und bartlose Gesicht mit den langgezogenen Zügen, dem spitzen Kinn und den boshaften Augen – wie verändert sah es dem Eintretenden entgegen! Uralt, wie aus Pergament gepresst, hatte dieses Antlitz ja immer ausgesehen, selbst in den Tagen der Jugend seines Besitzers, aber heute war doch etwas Besonderes darin – die Runen des Todes.
„Ah, Mosjö Alfred“, schnarrte der alte Herr trotz der drohenden Zeichen in seinem Antlitz mit dem gewohnten spöttischen Ton. „Was verschafft mir die hohe Ehre deines Besuches?“
„Meine Mutter schrieb mir, du seist krank, Onkel. Da wollte ich doch einmal selbst nach dir sehen“, erwiderte Falkner herzlich und reichte dem armen reichen Krüppel die Hand.
Kichernd wie ein Kobold, kitzelte der alte Freiherr mit der Fahne der Gänsefeder, die er in der spindeldürren, großen gelben Rechten hielt, die Fläche der ihm gebotenen Hand. „Das Opfer liegt – die Raben steigen nieder“, zitierte er mit blinzelnden Augen.
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