„Nein, liebe Mutter, der bin ich nicht“, erwiderte Falkner, entschlossen, die Sache zur Sprache zu bringen.
Frau Ruß sah ihren Sohn einen Moment an, aber sie hörte nicht auf zu stricken. „Ich finde solche Scherze unpassend“, sagte sie ruhig, aber scharf.
„Nun, der Onkel könnte sich höchstens einen solchen erlaubt haben, daran erkenne ich ihn“, meinte Doktor Ruß, seinen Stiefsohn scharf beobachtend. „Vielleicht teilt er dir auch mit, wer größere Ansprüche auf den Falkenhof hätte als du.“
„Gewiss tat er das“, entgegnete Falkner gereizt wie immer, wenn der Mann mit den stets vermittelnden Honigworten dort sprach. „Erben des Falkenhofs sind rechtskräftig Onkel Friedrich von Falkner und seine Deszendenten!“
„Ah –!“ Frau Ruß hatte sich erhoben und das Strickzeug mitten in die Stube geschleudert – ihre kalten Augen blitzten, ihre Hände ballten sich – im Nu war aber ihr Gatte an ihrer Seite.
„Ruhig, Adelheid, ruhig, mein Weib“, mahnte er sanft, ihre Hände streichelnd. „Siehst du nicht, dass dein guter Schwager sich einen Scherz mit Alfred erlaubt hat? Denn so viel ich gehört, soll Baron Friedrich in Brasilien gestorben sein, und dann besaß er nur eine Tochter –“
„Diese Tochter aber erbt den Falkenhof, und erst nach ihrem Tode fällt das Lehen, das ein sogenanntes Kunkellehen ist, an mich oder meine Deszendenz zurück“, erklärte Falkner ruhig.
Einen Moment war es still, ganz still in dem Zimmer. Das vordem so erregte Antlitz der Frau Ruß war ruhig geworden, unheimlich ruhig und steinern, die Augen leblos, als seien sie blind. Ihres Gatten Züge waren aschfahl geworden – er musste sich sichtlich beherrschen, ehe er in seinen gewöhnlichen, leisen und milden Ton zurückfallen konnte.
„Ei, das sind überraschende Nachrichten“, sagte er langsam. „Nun, wir werden ja sehen, ob sie auch rechtskräftig sind. Ein Kunkellehen also! Und warum hat man das nie erfahren? Adelheid, geliebtes Weib, fasse dich! Ich stehe mutig dir zur Seite, dein und Alfreds gutes Recht zu wahren und zu verteidigen, falls es dessen bedarf –“
„Das heißt, falls ich dessen bedarf!“, rief Falkner, sich hoch aufrichtend. „Aber ich zweifle, dass ich deines Beistandes je bedürfen werde!“
„Ah, schön – die stolze Falkennatur regt sich in deinem Spross, Adelheid“, erwiderte Doktor Ruß gemäßigt. „Und darf man fragen“, setzte er hohnvoll hinzu, „darf man fragen, was mit uns geschehen soll, wenn der brasilianische Onkel mit seinem Neger- und Papageiengefolge wieder hier einzieht?“
„Wir würden in diesem Fall das Haus, auf das wir kein Anrecht haben, verlassen, nicht wahr, liebe Mutter?“
„Als Bettler!“, sagte sie mit unbeschreiblichem Ausdruck in dem halb gezischten, halb geflüsterten Tone.
„Vis-á-vis de rién“, ergänzte Doktor Ruß.
„Ich für meinen Teil habe meinen Beruf“, erwiderte Falkner. „Ich kann mich ins Ministerium versetzen lassen und werde jedenfalls dafür sorgen, dass du, liebe Mutter, deinem Stande gemäß leben kannst!“
„Himmel, wie heroisch!“, rief Doktor Ruß mit leisem Lachen, das so provozierend wie möglich klang.
Falkner maß ihn mit blitzenden Augen.
„Oh“, sagte er schneidend, „jetzt bietet sich dir die Gelegenheit, deine viel gerühmte Professur anzutreten und auch das Deinige für die Frau zu tun, die ihr Schicksal vertrauensvoll an dich gekettet hat – mit einem Wort, zu beweisen, dass du auch verdienen und nicht nur verzehren kannst!“
„Alfred –!“ fuhr Frau Ruß auf, angestachelt durch einen innigen Handkuss ihres Gatten.
„Ich gehe auf mein Zimmer, liebe Mutter“, erwiderte Falkner ruhig.
„Besprich du alles mit deinem Mann – es tut nicht gut, wenn ich dabei bin, ich weiß es, besonders jetzt, wo ich von meinem Piedestal als Erbe des Falkenhofes herabgestiegen bin!“
Der Zustand des alten Freiherrn von Falkner verschlechterte sich im Laufe der Stunden sichtlich; zwar verlor er das Bewusstsein nicht, aber die körperliche Schwäche nahm rapide überhand, und die Unruhe des nahen Todes kam über ihn und ließ ihn nicht rasten. Im Krankenzimmer neben dem Sessel des Sterbenden saß Alfred Falkner und hörte den Flügen zu, die die Fantasie desselben machte und sich in bizarren und grotesken Bildern erging. Außer ihm war noch der langjährige Verwalter des Falkenhofes zugegen, Herr Engels, dessen kraftvolle, starke Hünengestalt mit dem mächtig langen, nunmehr ergrauten Vollbarte wohlbekannt war in Feld und Wald ringsum, zum Wohle der weit ausgedehnten Besitzung. Die subalterne Stellung, die er einnahm, war ihm nicht an der Wiege gesungen worden, denn als Sohn eines hohen Staatsbeamten hatte er eine gediegene akademische Bildung genossen. Da aber kam das Jahr 1848, und Karl Engels ließ sich von dem losbrechenden Sturm mitreißen, auf den Barrikaden mitzufechten, und in Gefangenschaft geraten, konnte er von Glück sagen, dass nur langjährige Festungshaft seine Strafe war. Als er dann sein Gefängnis verließ, hatte er schwer mit dem Dasein ums tägliche Brot zu kämpfen gehabt, bis endlich sein guter Stern ihn seinem alten Freunde und Studiengenossen, dem „buckligen Falkner“ zuführte, der ihn zuerst als Schreiber bei sich beschäftigte, und dem Schiffbrüchigen des Lebens dann zu seinem Verwalter machte, was beiden Teilen zum Segen gereichte.
Es war ein eigenes Verhältnis gewesen zwischen den beiden. Das trauliche „Du“ der Jugendzeit hatten sie beibehalten, aber in Geschäftssachen hatten sie sich stets steif, als Herr und Diener gegenüber gestanden, hatten trotz aller Harmonie nie dieselbe Meinung gehabt und sich mindestens zweimal wöchentlich tödlich verfeindet. Das gehörte zur Gesundheit des sonderbaren Paares und schadete beiden nicht, noch weniger aber dem Falkenhofe, der dabei trefflich gedieh, und schließlich war es ihnen so zur Gewohnheit geworden, dass sie es für ein böses Zeichen genommen hätten, wenn sie einmal derselben Meinung gewesen wären.
„Karl, wer wird dich nur ärgern, wenn ich nicht mehr lebe?“, hatte der Kranke vorhin gefragt, als Engels bei ihm eintrat.
„Na, das lass dich nicht grämen“, hatte der Freund beruhigend erwidert.
„Es grämt mich aber doch“, sagte der Freiherr, der immer widersprach. „Meine Hoffnung beruht dabei aber auf dem Satansmädel, Friedrichs Tochter – die wird dir schon geigen, dass du die Engel im Himmel singen hörst, Karl!“
„Na, das ist schön“, erwiderte Engels, der glaubte, sein Freund rede im Delirium, denn er wusste so wenig von der Lehenserbfolge wie Alfred Falkner wenige Stunden zuvor.
Erst als letzterer ihn im Nebenzimmer aufklärte, begriff er die Äußerung des Freiherrn.
„Tut mir leid für Sie“, sagte er und reichte Alfred die derbe Rechte, „das war nicht recht von dem da drin, Sie so lange zu täuschen! Na, überlebt er den Anfall, so will ich's ihm schon sagen, unverblümt, darauf können Sie sich verlassen. Aber freuen tut es mich doch, das Mädchen, Freiherrn Friedrichs Tochter, wiederzusehen! Da war Leben drin, sage ich Ihnen, alle Wetter! Das schäumte und brauste wie in einer Sektflasche, aber die rechten Zügel fehlten, daran lag es, und der Übermut wusste nicht, wohin zuerst. Hatte sie lieb, sehr lieb, die kleine rothaarige Wetterhexe!“
Alfred Falkner nickte – er sah sie jetzt wieder deutlich vor sich im Mondschein am Brunnen, den Rosenkranz flechtend und das süße Lied von der Jugendzeit singend; denn es gibt Momente der Erinnerung aus früheren Jahren, die nie verblassen. Sie prägen sich dem Gedächtnis so fest ein, dass ihre Farben frisch bleiben, bis unser Leben selbst dahingeht – ein Augenblick im Stundenglas der Ewigkeit.
Schwächer und schwächer wurden die Kräfte des Schlossherrn vom Falkenhof mit dem scheidenden Tage; unaufhörlich fragte er nach dem Justizrat Müller, seinem Sachwalter, den er nach dem Falkenhof beordert hatte, und schon fürchteten sein Neffe und Engels, der Ersehnte könnte zu spät kommen, als er endlich nach Sonnenuntergang eintraf.
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