Doktor Ruß, der sich mit seiner Frau dem Krankenzimmer bisher ferngehalten hatte, trat dem kleinen, lebhaften Herrn schon in der Vorhalle entgegen und unterrichtete ihn von dem Zustande seines Klienten. Seine Frage, ob er in etwas sich nützlich erweisen könne, verneinte der Justizrat für den Augenblick, trotzdem aber geleitete Ruß ihn zu den Zimmern des Freiherrn und trat mit ihm bei dem Kranken ein.
„Was will der hier?“, raunte Engels vor sich hin, denn er und Doktor Ruß waren einander gar nicht grün, trotz der unversiegbaren Quelle von Liebenswürdigkeiten, die letzterer auf den Verwalter herabströmen ließ.
„Nun, Justizrat, was bringen Sie mir für Nachrichten?“, fragte der Freiherr eifrig, und sein halb erloschenes Auge begann noch einmal aufzuflammen.
Der kleine Jurist entfaltete Papiere, die er in einer Mappe mitgebracht.
„Soll ich in Gegenwart dieser Herren sprechen?“, fragte er. Der Kranke sah Engels, Alfred Falkner und Doktor Ruß der Reihe nach an.
„Warum nicht, lieber Müller? Nur beeilen Sie sich!“
Der Justizrat putzte sein Pincenez, klemmte es auf seine Nase und räusperte sich.
„Nun denn“, begann er, „so erlaube ich mir, Ihnen vor allem mitzuteilen, dass der Freiherr Friedrich von Falkner, Ihr ältester Bruder, lieber Baron, vor drei Jahren schon in Rio de Janeiro an einer akuten Krankheit verstorben ist. Hier sind die betreffenden Papiere darüber!“
„Tot also!“, sagte der Kranke leise. „Tot, gestorben vielleicht im Zorn gegen mich. Weiter!“
„Ihm folgte ein Jahr später seine Gemahlin, die Freifrau Tereza von Falkner, geborene Marquesa de Santiago, im Tode, verursacht durch ein jahrelanges Brustübel“, fuhr der Justizrat fort. „Sie starb, ehe sie von einem alten, unvermählten Onkel, dem Grafen Silvo Fernandez, dessen große Besitzungen geerbt hatte.“
„Güter in Brasilien sind so gut wie Güter auf dem Monde“, bemerkte der Kranke verächtlich. „Nun, und das Mädchen?“
„Die Freiin Dolores von Falkner lebt“, berichtete der Justizrat weiter. „Sie kehrte nach dem Tode ihrer Mutter nach Europa zurück und hält sich augenblicklich in B. auf –“
„Ah“, machte der Freiherr höhnisch, „sie weiß wahrscheinlich mehr von dem Kunkellehen als du, Alfred!“
„In B. auf“, fuhr der Justizrat fort, „woselbst sie bei der Hofoper als erste Sängerin unter dem Namen Falconieros wirkt. Als solche trat sie erst die große Erbschaft ihres Großoheims an.“
„Wie – was?“, fragte der Freiherr verblüfft, während aus Alfreds Antlitz jeder Blutstropfen gewichen war. Jetzt fiel es wie Schuppen von seinen Augen, jetzt verstand er die Ahnungsschauer, die ihn so oft durchzuckt, jetzt wusste er, dass es dieselbe Stimme, die Stimme der Satanella war, die damals in der Mondnacht auf dem Brunnenrande das Lied gesungen:
Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Tönt ein Lied mir immerdar – –
„Die Identität der jungen Dame ist ohne Zweifel“, schloss der Justizrat seine Chronik der Linie Friedrich Falkner.
„Also eine Opernsängerin, eine Theaterprinzess die Erbin vom Falkenhof“, sagte der Freiherr schneidend. „Man lernt nie aus, Justizrat!“
„Nein“, bestätigte dieser, in seinen Papieren kramend. „Ich kann aber mit Befriedigung feststellen, dass Donna Falconieros einen Leumund besitzt, wie, nun, wie ihn manche unserer höchsten Damen nicht hat – er ist tadellos hinsichtlich ihres Lebenswandels. Das ist doch wohl die Hauptsache!“
„Ja, die Hauptsache für sie selbst“, entgegnete der Kranke, sich ereifernd, „für mich aber ändert sie das Faktum nicht. Opernsängerin! Nun, da mag es mit den Gütern in Brasilien nicht weit her sein, ich sagte es ja gleich! Wir müssen diese Donna Dolores von der Erbfolge ausschließen, Justizrat!“
„Geht nicht“, entgegnete der Angeredete lakonisch. „Donna Dolores ist und bleibt die erbberechtigte Freiin von Falkner. Was sie privatim tut und treibt, geht uns nichts an! Außerdem enthalten die Lehensbestimmungen keinen Passus, der uns in dieser Angelegenheit dienen könnte.“
„Sie tut und treibt ihre Singerei aber nicht privatim, sondern sehr öffentlich“, sagte der Freiherr heftig.
„Aber nicht als Freiin von Falkner“, beharrte der Justizrat. „Sobald dieser Name außer Spiel bleibt bei ihrer Künstlerkarriere, kann ihr Recht nicht angefochten werden, wenigstens nicht von dem Erblasser. Allerdings steht es den Agnaten frei, gerichtlich gegen die Erbin vorzugehen, wenn sie finden, dass ihre Beschäftigung eine mit ihrem Stande unverträgliche und ehrenrührige war beziehungsweise ist.“
„Kann ich in diesem Falle nicht finden“, ließ Engels sich vernehmen.
„Wer redet hier ungefragt?“ fuhr der Freiherr auf. „Das ist meine Sache zu entscheiden! Nun, und was würde der Erfolg eines derartigen Vorgehens der Agnaten des Falkenhofes gegen die Erbin sein?“
Der Justizrat schnitt eine seiner charakteristischen Grimassen. „Kosten, viel Kosten“, sagte er achselzuckend.
„Unsinn“, schrie der Kranke, den Krückstock auf die Dielen aufstoßend und dann von sich schleudernd. „Der Bescheid, das Urteil? Ich frage nach dem Urteil!“
„Ja, das würde höchstwahrscheinlich dahin lauten, dass, da es der Freiin von Falkner beliebt hätte, zu ihrem Vergnügen unter anderem Namen Opernpartien zu singen, ihr dies nicht verwehrt werden könnte, und dass diese Künstlerpassion mit ihrem Besitz des Falkenhofes nichts zu tun hätte, um so mehr, als dieser Besitz doch nach ihrem Ableben an die prozessierenden Agnaten zurückfiele.“
Schon während der Gegenrede des Justizrates hatten sich die künstlich gehobenen Lebensgeister des Freiherrn zu legen begonnen, jetzt lehnte er sich erschöpft zurück.
„Nun, meinetwegen“, sagte er matt. „Lassen Sie mich das Testament unterschreiben – Sie haben es doch mitgebracht? Alfred, deine Sache bleibt es, gegen diese Opernprinzess, gegen die Komödiantin zu protestieren. Sie hat kein Recht an den Falkenhof!“
Der Angeredete schwieg – was sollte er auch sagen? Dass er im Prinzip dem Oheim beistimmte, nicht aber im Rechtspunkte. Das aber fühlte er sicher, dass er sie hassen musste, die ihm vom Anbeginn „unsympathisch“ war, und die jetzt urplötzlich seinen Pfad kreuzte, wie er es nie gedacht!
Der Kranke unterzeichnete das Dokument, das der Justizrat, sorgsam nach dem Original mundiert, mitgebracht, und Engels nebst einem Unterbeamten unterschrieben es als Zeugen. Zwei Stunden später fuhr der kleine Jurist nach B. zurück mit dem Testament, es beim Gericht niederzulegen, aber er kam nicht mehr dazu, denn schon am nächsten Morgen erhielt er die Nachricht, dass der Freiherr Gustav von Falkner zwischen zwei und drei Uhr nachts einem Herzschlag erlegen sei.
Das ist eine traurige, schreckliche Stunde, wenn wir die irdischen Überreste derer, die wir geliebt, hinausgeleiten müssen zur letzten Ruhestätte unter dem grünen Rasen. Wem Gott noch diese Stunde erspart hat, der kann es auch nicht ermessen, wie es tut, wenn der Sarg, den liebende Hände mit Blumen geschmückt, hinausgetragen wird über die heimische Schwelle, wenn er langsam hinabgleitet in das frisch gegrabene Grab und so allmählich den Blicken entschwindet – für immer. Das ist fast der bitterste Augenblick bei dem bitteren Scheiden, das wir den Tod nennen, und doch werden wir geboren, um zu sterben, und keiner weiß, wann ihm sein Stündlein schlägt.
Als man den schweren eichenen Sarg des Freiherrn Gustav von Falkner hinabließ in die Familiengruft der Falkner, die so friedlich und schön dicht am „vielgrünen“, rauschenden Walde lag, da war es anders. Es hatte niemand den boshaften Krüppel geliebt, der jedem mit seiner bösen, scharfen Zunge eine Wunde beizubringen trachtete. Mit Hass und Rache im Herzen stand das Rußsche Ehepaar und sah dem hinabgleitenden Sarge nach. Ohne Trauer, aber auch ohne Groll stand Alfred Falkner neben ihnen. Der Tote hatte ihn als Kind erschreckt, als Jüngling eingeschüchtert und entrüstet, als Mann abgestoßen, dennoch aber hatte er ein viel zu großmütiges Herz, um kleinlich zu denken und Groll hinter dem Sarge des Mannes herzutragen, der im Grunde doch sein Wohltäter gewesen war.
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