Jetzt wandte Falkner sich um und trat neben den Stuhl, in dem das boshafte, hinfällige Schattenbild eines Menschen sich krümmte unter dem geraden, vorwurfsvollen Blick seines Neffen, der so hoch und gebietend neben ihm stand.
„Kein Wort weiter, Onkel!“, sagte er fest. „Gott soll mich behüten, dass je der Gedanke in mir keimte, andere um ihr gutes Recht betrügen zu wollen. Sind diese Bestimmungen rechtskräftig, so soll mit meiner Bewilligung niemand wagen, daran zu rütteln, damit ich bereichert werde. Dass du mich aber in Unwissenheit darüber gelassen, mich als reichen Erben erziehen ließest, nur in der boshaften Freude, meine Mutter zu enttäuschen und den Mann zu ärgern, den du nicht leiden magst – das sind Dinge, die du vor deinem Gewissen zu verantworten hast, nicht vor mir!“
„Alfred!“, wimmerte der alte Mann, „Alfred, scheide nicht im Zorn von mir – das ist doch ein hässliches Scheiden –“
Falkner beugte seine hohe Gestalt über den elenden Krüppel.
„Es mag schwerere Enttäuschungen geben als diese“, sagte er, mitleidig geworden im Angesicht des Todes, der sein Opfer schon gezeichnet hatte. „Und zum Beweis, dass ich nicht grolle, findest du mich bereit, dir Beistand zu leisten, falls du ihn zur Ordnung deiner Angelegenheiten neben dem eines Juristen bedarfst!“
Der kranke Mann heftete seine stechenden klugen Augen fest auf das männlich-schöne Antlitz seines Neffen, und dabei bekamen diese sonst vor Bosheit funkelnden Augen einen eigentümlich verschwommenen Ausdruck.
„Du bist ein guter Junge“, sagte er matt, und nach einer Pause fügte er hinzu: „Mich hat die Sache doch angegriffen und alteriert – ich hatte geglaubt, du würdest außer dir geraten – das hätte mir nicht so geschadet! Geh jetzt und schicke mir ein Glas Wein oder sonst etwas zur Stärkung, hörst du? Bleib aber auf dem Falkenhof, bis der Justizrat kommt –!“
Er lehnte sich erschöpft zurück, und Falkner verließ das Zimmer. In der Bibliothek aber musste er stehenbleiben zu einem Augenblick der Sammlung an diesem Wendepunkte seiner Zukunft. Die Enttäuschung, die ihn getroffen, war groß und die Entsagung größer, denn ohne habsüchtig zu sein, lässt sich der plötzliche Verlust eines großen Besitzes, dieses nervus rerum der Welt, immerhin schwer genug tragen, selbst da, wo Jugend, Kraft und Fähigkeit sich finden, den Verlust, wenn auch nicht zu ersetzen, so doch zu mildern. Leute, die nichts wissen von dem Luxus des Lebens, die die vielen Dinge als Liebhabereien für Sammlungen, Bücher usw. nicht kennen, verschmerzen Verluste von Vermögen oder geträumten Erbschaften viel eher und leichter als solche, die sich ein mehr innerliches und einsames Dasein durch das zu verschönern suchen, was ihrem Geschmack entspricht, aber eben nur mit großen Mitteln zu erkaufen ist. Alfred Falkner gehörte nicht zu den Menschen, die das Geld im Wahn des Leichtsinns mit vollen Händen unwürdigen Zwecken opfern, er spielte auch nicht, aber er genoss sein Leben, indem er reiste und sein Heim durch kostbare Gemälde und Kunstgegenstände verschönte. Er konnte diesen Liebhabereien frönen, denn er erhielt die Mittel dazu, und wenn er auch keine Schulden im Hinblick auf das zu erwartende große Erbe machte, so ward ihm doch manches, selbst Geld, daraufhin angeboten.
Und jetzt sollte alles anders werden, jetzt sollte er den Kampf um das Dasein selbst aufnehmen und zusehen, dass er ein standesgemäßes Leben mit dem Gehalt, das er verdiente, führte. Und seine Mutter –!
Die ganze eigene Enttäuschung, die er soeben erlebt, schrumpfte mit einem Mal in ein Nichts zusammen in dem Gedanken an seine Mutter, denn wie würde sie's tragen? Für sie war's ja hundertmal schwerer, sich eine eigene Existenz zu gründen, als für ihn, der Jugend, Kraft und Fähigkeit hatte, dem Dasein goldene Früchte abzuringen. Freilich, sie hatte ja ihren zweiten Gatten! Falkner lächelte bitter vor sich hin, als ihm der Mann einfiel, der seine Mutter so beherrschte, dass er selbst ihren mütterlichen Gefühlen Zügel anlegte und sie nach seinem Gutbefinden regelte. Jetzt konnte er's beweisen, ob seine Liebe groß genug war, um für sie und sich zu arbeiten!
Doch die Zeit verrann, und der Kranke drinnen bedurfte einer Stärkung. Falkner atmete tief auf, als wolle er neues Leben mit diesem Atemzuge einsaugen, und verließ die Bibliothek. Draußen im Korridor kam ihm Mamsell Köhler entgegen, die Beschließerin, die in ihrem ewigen grauen Kleide von Mix-Lüster, der schwarzseidenen Schürze und dem schwarzen Spitzentüchelchen über den eisgrauen Löckchen, die ihr altes verschrumpftes Gesicht einrahmten, jahraus, jahrein als ein unermüdlich tätiges Hausgeistchen durch die Korridore, Gemächer und Treppen des Falkenhofes huschte. Seit er selbst das Herrenhaus zuerst betreten, kannte Alfred Falkner die kleine Mamsell Köhler, und sie war sich immer gleich geblieben, nur dass ihre Löckchen mit der Zeit gebleicht waren. Sie trug ihre Kleider immer noch nach dem Schnitt, der in ihrer Jugend maßgebend gewesen, stets war sie in peinlichster Ordnung zu sehen, und ihr Leinenkragen, ihre Manschetten und die Strümpfe, die unter den Kreuzbändern ihrer Halbschuhe hervorleuchteten, waren stets von blendender Weiße.
Falkner hielt sie an, als sie schnell an ihm vorüberknicksen wollte, und bat sie, dem Onkel die gewünschte Stärkung zu bringen.
„Ei du mein Gott ja“, rief sie eifrig, „ein Gläschen Sherry oder Madeira werden dem gnädigen Herrn Baron guttun. Ach“, setzte sie traurig hinzu, „er macht keine Scherze mehr mit mir, wenn ich zu ihm hineingehe, und was schlimmer ist, er verhöhnt mich nicht mehr – da wird es wohl Matthäi am letzten mit ihm sein!“
Sie huschte die Treppe hinab, und Falkner stand wieder an den säulengetragenen Bogen und sah in den Hof – vielleicht zum letzten Mal in diesem Leben, wie er dachte. Dann schritt er langsam, sehr langsam nach dem düsteren Zimmer, das seine Mutter bewohnte und in dem die Möbel so gerade und steif standen und kein Zierrat Kaminsims und Tischchen schmückte.
In der tiefen mittleren Fensternische auf dem hohen Tritt saß Frau Doktor Ruß und strickte; ihr Gatte saß an dem feuerlosen Kamin, ein Buch in der Hand. Sein Blick glitt schnell und forschend über den eintretenden Stiefsohn, als suche er dessen Gedanken zu entziffern.
„Nun, wie fandest du den armen Onkel?“, fragte er mit liebevollem Tone.
„Sehr verändert“, entgegnete Falkner kurz.
„Ja, es geht zu Ende mit ihm“, bemerkte Frau Ruß kühl, indem sie eine neue Nadel abzustricken begann. Es gibt weibliche Wesen, die immer stricken, in jeder Stimmung, nur mit dem Unterschied, dass sie es in erregter Stimmung schneller tun als sonst; Wesen, die jede Stimmung hinwegstricken und in langen Strümpfen verarbeiten, die in Freud und Leid, in Sommerhitze und Winterkühle mit den Nadeln klappern und, wo andere Vergessen suchen, Trost oder Mitteilung, die gefallenen Maschen auflesen und Patentfersen stricken – sie gemahnen an jene grauenvollen Strickerinnen, die zur Schreckenszeit in Frankreich um die arbeitende Guillotine saßen und zu den fallenden Köpfen gleichmütig für ihren Lebensunterhalt Strümpfe förderten.
Alfred Falkner ließ sich müde in einen der hochlehnigen Sessel am Sofatisch gleiten – noch wusste er nicht, wie er es einleiten sollte, seine Mutter in Kenntnis von dem zu setzen, was er eben droben beim Oheim erfahren.
„Du warst lange bei ihm“, bemerkte Doktor Ruß, „fandest du ihn bei vollem Bewusstsein?“
„Er war vollkommen klar“, entgegnete Falkner, „und setzte mir die Bestimmungen über die Erbfolge im Lehen auseinander –“
„Ah!“, sagte Doktor Ruß und legte sein Buch beiseite. Die Sache begann ihn zu interessieren.
„Nun, was ist da lange auseinanderzusetzen?“, fragte Frau Ruß gleichgültig. „Du bist der Erbe, damit basta!“
Читать дальше