Mit unbeschränkter Dankbarkeit im Herzen folgte ihm Karl Engels, aber dass er den Toten geliebt hätte, damit konnte er sich selbst nicht betrügen; denn Dankbarkeit und Liebe sind zwar Geschwister, aber auch solche gehen gern jedes seine eigenen Wege.
Als Fünfter in diesem kleinen Trauergefolge stand Justizrat Müller, der oft nahe daran gewesen war, seinem unleidlichen Klienten den Kram zu kündigen, und als Sechste und doch Erste, allen voran stand die Erbin des Falkenhofes, Dolores Freiin von Falkner, im schwarzen Kleide, den schwarzen Kreppschleier über dem prachtvollen, goldroten Haar und dem heute besonders marmorbleichen, klassisch schönen Antlitz, auf dem ein solch tiefer Ernst lag, dass Alfred Falkner vergebens den berückenden Satanella-Ausdruck darin suchte.
Wie oft hatte der Tote da unten sie „Teufelsbrut“ genannt, ein herzloses, boshaftes Ding, auf das er am liebsten die Hunde gehetzt hätte, wie oft hatte er den Zorn, den er für ihren Vater, und den Hass, den er für ihre stolze, indolente Mutter gehegt, an ihr ausgelassen und ihr alle Seuchen der Erde angewünscht – und heute stand sie als seine Erbin an der offenen Gruft, und ein wehes Gefühl ging durch ihr Herz, dass der liebesarme, reiche, böse Mann dort zwischen den feuchten, dumpfen Wänden ruhen sollte, anstatt unterm grünen Rasen, und dass keine arme kleine Blume von liebender Hand gespendet hinabfiel auf sein letztes, enges Haus –!
Es war vorüber, und die Leidtragenden sowie die Dienerschaft machten der Erbin Platz zum Hinausgehen. Allein schritt sie durch die Reihen, allein schritt sie voraus der Pforte zu, wo die Wagen hielten, auf fünf Schritt Distanz folgten ihr die anderen. Die Frau Doktor Ruß hatte sich bei der Herfahrt geweigert, mit der „Komödiantin“ zu fahren, sie hatte es so auffallend getan, dass in das bleiche Antlitz der Donna Dolores eine feine Röte gestiegen war – natürlich weigerte sie sich auch, an der Seite der Nichte zu den Wagen zurückzukehren, und da sie sich sofort auf den Arm ihres Gatten lehnte, so ward es diesem auch unmöglich, der Erbin den Arm zu reichen, des Anstandes wegen. Da es Alfred Falkner durchaus nicht versuchte, sich zum Sklaven derselben zu machen, und Engels in sehr richtigem Taktgefühl es nicht für seines Amtes hielt, so musste Donna Dolores allein schreiten, aber zwei Schritt hinter ihr folgte Senor Ramo Granza, ihr Sekretär, Verwalter und Kammerdiener in einer Person, der getreue Ramo, der sie als Kind auf dem Rücken getragen und sie niemals verlassen hatte.
Er war es, der ihr jetzt in den Wagen half und sich dann mit unveränderlichem Ernst auf dem Kutscherbock postierte, zum Ärger der deutschen Diener, die den „brasilianischen Affen“ schon vor Jahren, als er mit seiner Herrschaft nach dem Falkenhof gekommen war, zum Kuckuck gewünscht hatten.
So musste sie denn allein zurück, musste sie allein hinaufsteigen nach dem Bibliothekszimmer, wo der Freiherr vorher aufgebahrt gewesen war und wo jetzt das Testament verlesen werden sollte.
Während sie in dem für sie bestimmten Sessel Platz nahm, den Schleier zurückschlug und die Handschuhe von den viel bewunderten, herrlich geformten Händen streifte, musste sie an die Kindertage zurückdenken, die sie hier, in den Räumen des Falkenhofes, verlebte. Damals, in dem sorglosen Dahingleiten der Zeit, hatte sie denselben beherrscht durch das goldene Königstum früher Jugend, wo man die ganze Welt sein eigen nennt und speziell für sich geschaffen glaubt. Mit den Hunden um die Wette war sie durch die Kreuzgänge des Hauses und durch die schattigen Alleen des Parkes geflogen und hatte hellauf gelacht im kostbaren Übermut der Jugend, wenn sie dabei strauchelte und fiel; aber sie hatte auch gelacht, wenn sie bei der wilden Jagd jemand an- und umrannte. Was man anderen Kindern ihrem Frohsinn zugute hält, wurde ihr aber als Verbrechen ausgelegt, als der Vorsatz, andere zu schädigen, und aus Trotz und Übermut hatte sie sich nie verteidigt. Da gab es dann immer bittere Reden über die „Satansbrut“ und den „brasilianischen Teufel“, den man sich auf dem Falkenhof entschieden schwärzer dachte als den des Nordens. Zuletzt gefiel sich die Kleine darin, den Teufel zu spielen, und jagte einmal der Dienerschaft einen tödlichen Schrecken ein, als es ihr einfiel, sich einen ausgehöhlten Riesenkürbis mit gräulich ausgeschnittener Fratze über den Kopf zu ziehen und in dieser Toilette, einen roten Schal um die Schulter geschlagen, im Mondschein in den Kreuzgängen spazierenzugehen. Sie erinnerte sich noch deutlich, dass der Kürbis wohl leicht über den Kopf gegangen war, aber nicht wieder zurück wollte, sodass Ramo ihn erst aufschneiden musste, um sie von ihrem geborgten Schädel zu befreien. Und wie Dolores daran dachte, musste sie lächeln – es war ein ganz flüchtiges Lächeln nur, aber es wurde doch bemerkt, denn Frau Doktor Ruß sagte halblaut und entrüstet zu ihrem Sohne: „Hast du sie lachen sehen, die herzlose Person? Sie freut sich ihrer Erbschaft so, dass sie nicht einmal imstande ist, ihr Vergnügen in diesem ernsten Augenblick zu beherrschen, wie es die Sitte heischt!“
Alfred Falkner nickte – er hatte nur halb hingehört, aber das Lächeln hatte er auch gesehen, weil – nun ja, weil er die Augen nicht fortwenden konnte von dem bleichen Antlitz mit den tiefen dunklen Augen, von diesem Antlitz, das ihm so „antipathisch“ war, wie er dem Maler Keppler gesagt. Vielleicht sah er nur zu ihr hinüber, weil das Gesetz der „Anziehungskraft des Abstoßenden“ auf ihn wirkte – so erklärte er sich's wenigstens selbst.
So brach denn die sicher nicht an Herzüberfluss leidende Frau Doktor Ruß den Stab über die „lachende Erbin“, und damit tat sie nur, was alle Welt tut, die ja so gern nach dem Schein richtet, wenn die Wahrheit nichts zum Richten bietet. Vielleicht wäre die Frau Doktor noch empörter gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass Donna Dolores während dieser ernsten Stunde an einen ihrer Kinderstreiche, an einen Kürbis gedacht. Da war es schon noch besser, an eine reiche Erbschaft zu denken, denn das war doch wenigstens herzloser, wie es ja nicht anders von dieser „brasilianischen Person“ zu erwarten war. O über diese lieben Nächsten, die so gern für uns denken und stets bemüht sind, uns ihre eigenen niedrigen oder schmutzigen Gedanken unterzuschieben! Denn das sind weiße Sperlinge in der Gesellschaft, die ihre eigenen freundlichen und herzenswarmen Ideen auch anderen zutrauen!
Nur der Doktor Ruß beobachtete Donna Dolores scheinbar nicht. Er saß, das Haupt gesenkt, auf seinem Sessel und nickte manchmal seinen Gedanken Beifall zu. Seine Ruhe war durch die entschlüpfte Erbschaft nicht getrübt worden, wenigstens hatte niemand davon etwas gemerkt. Es war so recht der Moment für ihn, allen zu beweisen, wie uneigennützig er war und wie er sich der älteren Frau nicht aus Spekulation vermählt hatte. Im Gegenteil, er hatte die Tage vorher im Schoße seiner Familie, vor den Beamten und Dienstleuten die Vorteile eines Kunkellehens genau erörtert und bewiesen, wie viel gerechter ein solches sei als ein Majorat, und endlich die Interessen der Erbin warm verfochten. Was er wollte, hatte er damit bewirkt. Frau Ruß pries laut den edeldenkenden Sinn ihres Gatten. Alfred Falkner wusste nicht, was er von alldem halten sollte, denn er begriff die Motive seines Stiefvaters noch nicht, die andern äußerten sich beifällig über ihn, und der Justizrat Müller sagte sich in seinem Innern: Ich habe mich in dir getäuscht, Freund Ruß, und sage peccavi! Man denkt eben immer an solche Motive, wenn ein jüngerer Mann eine ältere Frau heiratet. – Sela!
Nur einer stimmte in den allgemeinen Lobgesang über den „herrlichen“ Doktor Ruß nicht ein, das war der alte Engels. Der strich sich seinen mächtigen Vollbart, kniff ein Auge zu und pfiff, wenn Doktor Ruß dozierte.
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