Sie waren zusammengekommen unter den denkbar ungünstigsten Vorzeichen. Angela nicht sie selbst, durch den Irrgarten ihrer Gefühle stolpernd bis hin zu der ernsthaften Erwägung eines Mordes. Er selber hilflos in seinem Wunsch beizustehen, ein wahrer Freund zu sein und sich doch nur als nutzloser Beobachter vorkommend. Und jetzt kniete er hier auf dem Boden ihrer Wohnung, hielt sie umschlungen, streichelte ihren Kopf, ihren Rücken. Und genoss den Moment so sehr, dass er wünschte, er möge niemals enden.
Alles war ausgeklammert in diesen Minuten. Trauer, Wut, Verzweiflung blieben ausgesperrt aus dem fragilen Häuschen, das sie sich errichtet hatten. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Er spürte ihre Wärme, roch ihr Haar, fühlte die Wirbel ihres Rückens unter dem T-Shirt. Er hätte fast glücklich sein können.
Dann klingelte laut und misstönend das Telefon.
Kerner war jetzt ziemlich betrunken. Kurioserweise blieb sein Blick geschärft, sein Gang zur Toilette verlief schnurgerade und sein Sprachvermögen war klar und deutlich.
Sein Selbstmitleid hatte sich mehr und mehr in Richtung blanke Wut verschoben.
Das WC war leer. Er ging in eine der Kabinen, sperrte sich ein und zog vorsichtig das Röhrchen mit dem Kokain aus der Tasche der Jeans. Seine Hand war ruhig, als er sich eine Straße baute, die er teilte – eine für jedes Nasenloch. Die Wirkung setzte schlagartig ein. Es war, als würde ihm das Gehirn freigepustet. Der sanft beruhigende Effekt des Cognacs wich einer bösartigen Energie. Er verließ die Kabine und betrachtete sich im großen Spiegel. Was er sah, gefiel ihm. Ein gut aussehender böser Junge, die leicht geröteten Augen voller Tatendrang. Er atmete einmal tief durch, dann betrat er wieder die Bar.
Kerner bestellte einen weiteren Martell, dazu ein Bier gegen die trockene Kehle und steckte sich die erste Zigarette des Abends an. Sein Verstand arbeitete mit der Präzision eines Uhrwerks. Zwei Dinge galt es ins Reine zu bringen:
Da war zum Einen seine frühere Assistentin. Das Miststück hatte ihn ausgenutzt, hatte sich sein Vertrauen erschlichen, sein Wissen zunutze gemacht und ihn dann abblitzen lassen, als er die verdiente Belohnung einforderte. Durch Angela war es erst zu dieser Katastrophe gekommen. Er hatte nicht vorgehabt, das Balg zu töten. Er hatte den Jungen nicht einmal entführt, wie ihm zur Last gelegt wurde. Er hatte ihn von der Schule abgeholt, nicht zum ersten Mal, und der Knabe war freiwillig mitgegangen. Er hatte Angela einen Schrecken einjagen wollen, eine kleine Demonstration seiner Macht. Eine Warnung, ihren Standpunkt zu überdenken, mehr nicht. Einen Thomas Kerner wies man nicht zurück. Schon gar nicht nach all den Vorteilen, die er ihr verschafft hatte. Er hatte keine Heirat angestrebt, Gott bewahre. Er hatte sie nur vögeln wollen und nach allem, was er für sie getan hatte, wäre das nur recht und billig gewesen.
Und zweitens war da das ganz große Fragezeichen namens Alex. Alex war sein Dealer gewesen, der Beschaffer der glücklich machenden Pülverchen. Und nebenbei sein Liebhaber.
Alex war gerade 17 gewesen, aber schon schwer abhängig. Trotzdem sah er verdammt gut aus in seinen eng anliegenden Lederjeans, die deutlich zeigten, wie gut er ausstaffiert war, dort, wo es drauf ankam. Dazu die blonden Locken, die blauen melancholischen Augen. Kerner musste ihn haben, vom ersten Moment an.
Der Sex mit Alex war fantastisch. Allerdings auch anstrengend, denn der Junge war nicht satt zu bekommen. Außerdem hatte er ein paar unangenehme Wesenszüge gezeigt. Anfangs war Kerner noch amüsiert gewesen. Alex hatte ihn auf eine fast devote Art angehimmelt. Der Straßendealer und der Geistesmensch. Aber so nach und nach hatte Alex angefangen, Eifersucht zu entwickeln, Besitzansprüche zu stellen. Kerner hatte vorgehabt, sich bald einen anderen Händler zu besorgen. Der Knabe war lästig geworden.
So auch an dem besagten Abend. Alex war unangemeldet aufgetaucht und hatte einen Riesenstreit wegen des Jungen begonnen. Bruchstückhaft erinnerte sich Kerner daran, dass der Dealer ihn verdächtigt hatte, es mit einem Kind zu treiben. Wie lächerlich! Kerner hatte in seiner Wut eine weitere Prise genommen und dann wurde es leer in seiner Datenbank. Er konnte einige verschwommene Bilder rekapitulieren, wie er nach Nicolas sehen wollte, hatte eine vage Ahnung davon, dass der Junge geweint und geschrien hatte. Wie durch einen dichten Nebel hindurch sah er Nicky vor sich auf dem Boden, jammernd, zitternd, im Schritt eine sich vergrößernde dunkle Stelle ... Der hatte sich doch glatt in die Hose gepisst. Widerlich. Verdammt noch mal, das lief auf den Teppich … Er konnte immer noch die Wut spüren, die ihn angesprungen hatte. Aber danach? Was zum Teufel war dann passiert? Er war auf den schreienden Knaben zugegangen, um ihn… ja, was genau? Ihn zur Ruhe zu bringen, ihm den Mund zuzuhalten? Ich glaube, ich wollte ihn schlagen . Da war noch etwas. Ein gewaltiger Krach. Jemand hat geschrien. Aber wer? Er bekam es einfach nicht zusammen, die Szenerie wurde undeutlicher, je intensiver er versuchte, sich zu erinnern. So war es die ganzen sieben Jahre gewesen. Manchmal hatte er geglaubt, das Rätsel der letzten Minuten lösen zu können. Hatte gespürt, dass sich die Wahrheit tief in seinem Inneren versteckte, in einem verborgenen schmutzigen Winkel, den er nicht einsehen konnte. Aber er hatte sie mit aller Kraft seiner Gedanken gezwungen, ihr Versteck zu verlassen, sich zu offenbaren. Wieder und wieder war er drauf und dran zu triumphieren. Aber wenn er nur noch einen winzigen Schritt von der Klarheit eines Frühlingsmorgens in den Bergen entfernt war, kam der Nebel zurück. Nichts. Seine eigene, persönliche Wahrheit spielte mit ihm, ärgerte ihn, verhöhnte ihn. Aber sie zeigte sich nicht.
Wer hat geschrien? Ich selbst? Es hätte auch Alex gewesen sein können. Hatte der kleine Junkie geahnt, dass eine Katastrophe mitten auf ihre Klimax zusteuerte? Wollte er ihn davon abhalten, dem Jungen etwas anzutun? Aber das hatte er doch nicht. Oder doch? Es war wie der Lauf durch ein Labyrinth. Ein Irrgarten der unvollständigen Erinnerungen.
Da stand er nun, der Professor, der Meister der analytischen Schärfe. Der Logiker, das Genie der subatomaren Prozesse. Er konnte sicheren Fußes durch den Mikrokosmos der Quarks spazieren, jedoch Struktur in simple Speichervorgänge im Kleinhirn zu bringen, ließ ihn straucheln. Er kam einfach nicht weiter als bis zu dem Moment des beängstigenden Schreis. Danach völliger Blackout bis zu dem Zeitpunkt, da der Bulle mit dem stechenden Blick ihm die Handschellen angelegt hatte. Von Alex war weit und breit nichts zu sehen gewesen.
Das war eine Tatsache, über die Kerner anfangs sehr froh gewesen war. Dem lächerlichen Vorwurf der Kindesentführung ausgesetzt zu sein, war schlimm genug. Mit der abstrusen Anklage des Kindesmordes konfrontiert zu werden, war wahrscheinlich schon nicht wieder gut zu machen. Egal wie sehr sie sich später dafür würden entschuldigen – und verantworten – müssen. Zumindest hatte Kerner das gedacht. Aber zu allem Überfluss in den Schlagzeilen zu lesen, dass er einen drogenabhängigen, minderjährigen Dealer gevögelt hatte, wäre das Ende seiner Laufbahn gewesen.
Später dann, als er den Ernst der Situation begriffen hatte, als eine Verurteilung sich tatsächlich abzeichnete, hätte er anders gedacht. Da hätte er alles dafür gegeben, wenn Alex aus der Versenkung aufgetaucht wäre. Er hätte ihn entlasten können. Hätte er das? Was wäre herausgekommen, wenn sie Alex vernommen hätten? Kerner schüttelte den Zweifel unwillig ab, trank einen weiteren Schluck.
Dieser Mistkerl hatte sich niemals auch nur nach ihm erkundigt. Kein Besuch. Kein Anruf. Kein Brief. Es war, als hätte Alex nie existiert. Natürlich hätten sie keinesfalls die ganze Wahrheit erzählen können, nichts über Drogen und Sex. Aber das wäre auch nicht nötig gewesen. Sie hätten eine Geschichte erfinden können, die erklärt hätte, warum Alex bei ihm gewesen war. Aber der hatte es vorgezogen, ihn seinem Schicksal zu überlassen. Aus Angst vor der Polizei? Aus Gleichgültigkeit? Weil Kerner eben doch den Jungen bewusst getötet hatte, es kein Unfall war? Nein, nein, nein! Es war müßig, reine Spekulation und es spielte keine Rolle für Kerner. Es war ihm schlicht egal. Was blieb, war der Verrat. Er würde sich darum kümmern, zu gegebener Zeit. Er ließ den Gedanken genießerisch noch eine Weile schweben, bevor er ihn wegwischte und sich zusammenriss.
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