1 ...7 8 9 11 12 13 ...37 Im Spätsommer während des ersten Semesters geschah dann etwas, das ihn prägen und seinen weiteren Weg entscheidend bestimmen sollte.
Es waren die letzten Tage des Septembers. Altweibersommer. Es war warm und die Luft träge. Die ersten Blätter der Buchen auf dem Campus waren schon gelb gefärbt, aber heute hatte die Sonne den ganzen Tag vom Himmel geschienen. Jetzt am späten Nachmittag stand sie bereits ziemlich tief und tauchte das Uni-Gelände in ein unwirkliches goldfarbenes Licht. Ständig war man gezwungen, die Augen zuzukneifen und zu blinzeln. Peter lümmelte sich auf dem Rasen des Geländes, zusammen mit vier oder fünf anderen. Sie hatten einen Joint kreisen lassen und ein paar Bier gekippt und dösten nun in den letzten Sonnenstrahlen vor sich hin. Die Unterhaltung war schleppend und Peter spürte, wie er langsam einzuschlafen begann.
Dann hörte er die Sirenen.
Drei Mannschaftswagen der Polizei rasten auf das Areal und kamen mit quietschenden Reifen zum Stehen. Die Beamten schwärmten aus und verteilten sich an strategischen Punkten.
Unruhe machte sich breit. Zwei Polizisten kamen auf Peters Gruppe zu. Beide hatten Schlagstöcke in der Hand.
»Kommen Sie mit! Na los, aufstehen, mitkommen!«, brüllte einer der beiden und wies mit dem Stock in Richtung der Haupthalle. Von irgendwo hinter Peter flog eine Dose heran, traf den einen am Arm.
»Was ist denn los?«, fragte jemand aus der Runde.
»Schnauze! Kommen Sie einfach mit!«
Proteste wurden laut, erste Rangeleien, als sich einer aus dem Staub machen wollte und von den Beamten festgehalten wurde. Der Student trat um sich, traf einen Polizisten am Schienbein. Mit einem Schlag des Hartgummiknüppels auf den Arm des Widerspenstigen beendete dieser den Widerstand. Der Junge lag am Boden und hielt sich wimmernd den schmerzenden Arm. Die Proteste schwollen an; überall auf dem Campus das gleiche Bild. Erste Sprechgesänge »Wir woll`n ke-ine – Bul-len-schwei-ne!«
Die Situation war kurz vor dem Eskalieren.
Keiner wusste, was los war und Fragen wurden nicht beantwortet. Zwei unterschiedliche Welten prallten aufeinander, die Feindseligkeit der beiden Parteien war offensichtlich, fast greifbar. Gewaltbereitschaft auf Gegenseitigkeit.
Peter half Roger, dem verletzten Studenten, auf die Beine. Später stellte sich heraus, dass der Arm gebrochen war.
Im Hauptgebäude wurden sie zusammengetrieben. Erst jetzt machte sich ein Mann bemerkbar, der sich vorher im Hintergrund gehalten hatte. Er hatte eindeutig die Leitung des Einsatzes. Graues schütteres Haar, ein schäbiger Anzug von C&A und nicht größer als einssechsundsiebzig. Aber sein Auftreten hatte etwas von der Distinguiertheit eines Anführers. Der Mann war es gewohnt zu bestimmen.
Unter den Studenten, etwa hundert hatten sich noch auf dem Gelände aufgehalten, herrschte gespannte Unruhe. Der Grauhaarige brachte die Menge mit einer Handbewegung zum Schweigen. Als er sprach, klang seine Stimme erstaunlich sonor:
»Zuerst einmal bitte ich Sie, unser Vorgehen zu entschuldigen.« Einzelne Zwischenrufe ertönten. Der Großteil jedoch verhielt sich ruhig.
»Ihre Fragen werden beantwortet werden. Jetzt aber benötigen wir Ihre Kooperation. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir Sie einzeln befragen werden. Ihre Personalien werden dabei registriert und… ». Ein kollektiver Aufschrei. Wieder Unruhe, Zwischenrufe, lautstarke Proteste. Die Uniformierten strafften sich, bereit gegen den Pulk vorzugehen. Der Mann hob erneut die Hand.
»... diejenigen, die die Befragung hinter sich haben, verlassen danach sofort das Gelände und gehen nach Hause. Es ist nicht gestattet, Kontakt mit den noch Wartenden aufzunehmen. Vielen Dank für Ihre Mithilfe.«
Damit verließ er die Rednerposition und zog sich wieder zurück. Trotz der aufgebrachten Atmosphäre verlief die Aktion weitgehend ruhig und diszipliniert. Peter wartete etwa eine Viertelstunde, bis er zum Verhör bestellt wurde. Wie sich herausstellte, war die Leiche einer Studentin in einem Hörsaal entdeckt worden. Sie hatte offensichtlich einen gewaltsamen Tod erlitten. Die herbeigerufene Polizei hatte das Gelände abgesperrt und dann die Anwesenden zur Einzelbefragung geführt. So war die Chance relativ groß, den oder die Täter noch am Tatort anzutreffen. Denn scheinbar war die Tat sehr bald nach der Ausführung entdeckt worden.
Das alles erfuhr Peter während seiner eigenen Aussage von einem übellaunigen Beamten, der routiniert und gelangweilt seinen Fragenkatalog abhakte. Peter verstand die Gründe für das Vorgehen durchaus. Was er nicht nachvollziehen konnte, war die offen zur Schau gestellte Aggression der Polizisten, der rüde und respektlose Umgang mit den Studenten. Aber auch mit dem Benehmen einiger Kommilitonen hatte er seine Schwierigkeiten.
Der Mord selbst war dann schnell aufgeklärt. Eine Eifersuchtstat. Verbrechen aus (nicht erwiderter) Leidenschaft. Spuren am Tatort waren mit denen an der Kleidung eines der Befragten identisch. Der Täter hatte nach anfänglichem Leugnen unter der Last der Beweise ein umfassendes Geständnis abgelegt. Peter hatte weder Täter noch Opfer gekannt und so dachte er bald nicht mehr an den Mord. Allerdings beschäftigten ihn die Begleitumstände der Verhöre.
Ein paar Tage später war Peter in Kreuzberg unterwegs. Er hatte eine Freundin besucht und war auf dem Heimweg, als er in der Yorckstraße dem Grauhaarigen begegnete. Es regnete in Strömen und die wenigen Fußgänger hielten die Köpfe gesenkt. Auch Peter, der nur im T-Shirt unterwegs war, stemmte sich gegen den Wind und die Nässe. Er nahm den Mann erst wahr, als er fast in ihn hineingerannt war. Er murmelte eine Entschuldigung und wollte eben weiterhasten, als er den Kommissar erkannte. Er zögerte.
»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte der Kripobeamte. Peter konnte fast fühlen, wie angespannt sein Gegenüber war. Der Polizist zeigte sich wachsam, misstrauisch. Gleichzeitig schien er zu überlegen, ob und woher er Peter kannte.
»Sie haben den Einsatz geleitet«, konstatierte Peter und registrierte im selben Moment, wie sinnlos der Satz auf den anderen wirken musste. »Auf dem Uni-Gelände. Der Mord an einer Studentin. Ich war dabei. Ich meine, ich war auf dem Campus, bin verhört worden«, schob er zügig hinterher.
»Nun, offensichtlich hat man Sie wieder gehen lassen«, sagte der Graue nicht ohne eine Spur von Humor.
»Ich möchte mal wissen, warum Ihre Kollegen sich wie die letzten Ärsche aufgeführt haben. Das war unter aller Sau, geradezu menschenverachtend«, entgegnete Peter eine Spur zu wichtigtuerisch. Es war vielleicht übertrieben, aber es war das, was den Studenten seit Tagen beschäftigt hatte.
»Das ist genau das Dilemma mit euch«, kam es zurück. »So schnell mit den Vorwürfen, so pauschal mit den Anschuldigungen. Und so langsam mit dem Nachdenken, wenn es um das eigene Verhalten geht. Langsam und blind…«. Der Polizist zuckte mit den Schultern und sah zum Himmel hinauf. Dunkelgrau. Es würde sich einregnen.
»Junger Mann, ich würde das ja gern weiter mit Ihnen diskutieren. Aber dann müssten Sie mir schon in etwas gemütlichere Gefilde folgen.« Mit diesen Worten ließ er Peter einfach stehen. Der sah ihm nach, wie er die Tür des Yorckschlösschens öffnete und in dem Szenelokal verschwand. Er überlegte einen Moment, dann folgte er dem anderen. Seine Neugier – und seine Streitlust - waren geweckt.
»Wie du siehst, mein Junge, handelt es sich bei der Relation des Staatsapparates zu seinen Schutzbefohlenen durchaus nicht um eine einseitige Angelegenheit. Also trinken wir auf die anzustrebende Symbiose von Volk und Volksvertretern!« Hauptkommissar Heiner Liebrich hob lachend sein fast leeres Bierglas, stutzte. »Verdammt, wie soll man defizitäre Beziehungen kitten, wenn man nichts zu trinken hat? Bedienung!«
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