Katharina überlegte einen Moment. Dann fragte sie: »Können Sie mir einen Gefallen tun?«
»Lassen Sie mich raten? Ich soll diese Analysen hier mit den anderen Proben vergleichen? Klar, kein Problem.«
***
Andreas Amendt war bereits am Schluss seines Vortrags angekommen: »Und der Grund, warum ich Ihnen das alles erzähle und immer wieder auf eine gründliche Leichenschau dränge, ist ganz einfach: die Dunkelziffer. In Deutschland geht man davon aus, dass bei circa zehntausend Fällen im Jahr eine eigentlich indizierte Autopsie nicht durchgeführt wird. Davon sind ungefähr eintausendzweihundert Fälle Tötungsdelikte, der Rest unerkannte Krankheiten, Vergiftungen oder Verletzungen. Bei circa zweitausendfünfhundert bekannt gewordenen Tötungsdelikten liegt also allein in diesem Bereich die Dunkelziffer bei fast fünfzig Prozent. Und das ist definitiv zu hoch! – Ah, Frau Klein beehrt uns wieder mit ihrer Gesellschaft.«
Katharina nahm noch einmal ihren Platz vor der Leinwand ein: »Ich bitte die Unterbrechung zu entschuldigen.«
Andreas Amendt wandte sich wieder den Studenten zu: »Also? Hat jemand Fragen?«
Die Studentin, die zuvor mit ihren Krimikenntnissen geglänzt hatte, meldete sich: »Ich habe eine ganz blöde Frage.« Sie zögerte einen Augenblick. »Warum?«
»Warum was?«, fragte Andreas Amendt verwirrt.
»Warum töten so viele Menschen? In Krimis klingt das immer so durchdacht, aber im realen Leben, in Zeitungsmeldungen –«
»– klingt es immer entsetzlich banal«, führte Katharina den Satz zu Ende. »Gut beobachtet: der Mann, der seine Frau verprügelt, bis sie stirbt; der arme Schlucker, der für fünfzig Euro eine Tankstelle überfällt; die Messerstecherei vor der Disco. Und fast alle Täter werden noch am selben Tag überführt und verhaftet. Sie haben recht. Die Motive erscheinen schrecklich banal. Ich könnte Ihnen jetzt die wichtigsten Motive aufzählen, aber das hat man bereits vor vielen Hundert Jahren gemacht.«
Sie schrieb an die Tafel:
SUPERBIA
AVARITIA
INVIDIA
IRA
LUXURIA
GULA
ACEDIA
»Erkennt das jemand?«, fragte sie.
Der Mann, der nach den DNA-Analysen gefragt hatte, meldete sich: »Die sieben Todsünden.«
»Sehr gut. Superbia: Hochmut und Arroganz lassen den Täter glauben, er kommt mit einem Mord durch. Avaritia: Habgier finden Sie als Mordmerkmal sogar im Strafgesetzbuch. Invidia: Neid und Eifersucht; fast sechzig Prozent aller Tötungsdelikte sind das, was die Presse gern Eifersuchtsdramen nennt. Ira: Zorn und Rache; Motiv für Totschlag im Affekt, aber auch für sogenannte Ehrenmorde. Luxuria: die Wollust, der überbordende Sexualtrieb. Gula: die Maßlosigkeit und Selbstsucht. Und nicht zuletzt Acedia: Faulheit und Feigheit; die unterlassene Hilfeleistung, das Weghören, wenn der Nachbar wieder einmal seine Frau oder sein Kind verprügelt. – Ich würde noch zwei wesentliche Motive hinzufügen.«
Sie schrieb:
HERRSCHSUCHT
»Die Sucht nach Macht – Töten ist die ultimative Machtausübung – ist der wesentliche Kern praktisch aller sogenannten sexuell motivierten Verbrechen. Und …«
STUPIDITAS
»Die meisten Kapitalverbrechen werden aus Dummheit begangen. Und sie werden aus Dummheit übersehen, aus Naivität und Unwissen. – Aber um Ihre Frage zu beantworten: ja. Mir ist noch kein Mord untergekommen, der nicht banal und idiotisch gewesen wäre.«
***
Nachdenklich hatten die Studenten den Raum verlassen. Katharina und Andreas Amendt blieben alleine zurück.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie theologisch so gebildet sind«, sagte der Arzt schließlich.
»Bin ich auch nicht. Das habe ich von einem Kommilitonen an der Polizeihochschule, der eigentlich geweihter Priester war. Ach, Sie wissen nicht zufällig, was Herrschsucht auf Lateinisch heißt?«
Andreas Amendt schmunzelte und wollte etwas erwidern, doch sie wurden jäh unterbrochen.
»Doktor Amendt?« Der Mann, der so aufdringlich nach den DNA-Analysen gefragt hatte, steckte den Kopf durch die Tür.
»Herr von Kunert! Hat Ihnen die Vorlesung gefallen?«
»Doch. Durchaus.« Der Mann kam die Stufen des Hörsaals hinunter und streckte Katharina seine Hand hin: »Alirezah von Kunert. Ich bin freier Journalist und –«
»Und er hängt immer in der Rechtsmedizin herum auf der Suche nach einer Schlagzeile«, unterbrach ihn Andreas Amendt.
»Gestatten Sie, dass ich nachfrage, Doktor Amendt?«
»Wenn es sein muss.«
»Als Sie die Zahlen erwähnten: zehntausend übersehene Morde.«
»Zehntausend Tote, bei denen man besser eine Autopsie durchgeführt hätte. Zwölfhundert Tötungsdelikte.«
»Meinetwegen. War das Polemik?«
»Leider nicht. Das ist die bittere Realität.«
»Aber das ist ja ein Skandal. Was kann man denn dagegen tun, Ihrer Meinung nach?«
»Das Übliche. Mehr Mittel. Mehr Stellen. Und besser ausgebildete Ärzte. – Aber wenn Sie uns nun entschuldigen würden: Frau Klein und ich haben zu arbeiten.«
***
Sie waren ein paarmal durch das Gebäude gelaufen, bis sie sicher waren, Alirezah von Kunert wirklich abgehängt zu haben, bevor sie ihre Schritte erneut ins DNA-Labor lenkten.
Torsten Kleinau erwartete sie schon: »Dank der Unterlagen gibt es jetzt für alle eure Proben Gegenstücke. Bis auf eine.«
Katharina sah sich die Ergebnisse an. Für Wigo Bach gab es keine Gegenprobe. Wenig überraschend. Er war schließlich schwul.
»Aber ich habe noch mal über Ihre Frage nachgedacht«, unterbrach Torsten Kleinau ihre Gedanken. »Über Oma Lause.«
»Ja? Und?«
»Ich will ja meine Doktormutter nicht in Schwierigkeiten bringen, aber sie kam mal mit einem ganzen Satz Proben an. Vor ein paar Wochen. Allerdings war hier gerade Hochbetrieb. Der Massentest für diesen Kindermord in Marburg. Sie hat dann irgendwas davon gemurmelt, dass sie sich besser ein anderes Labor sucht.«
»War das ungewöhnlich?«
»Nicht unbedingt. Aber normalerweise hat sie nur eine oder zwei Proben zur Analyse, und das müssen zehn Stück oder so gewesen sein. Und sie war irgendwie … ich weiß nicht … geheimniskrämerisch. Ich habe damals nur gedacht, das wäre für ein Forschungsprojekt.«
Irgendwie schmeckte Katharina Oma Lause – was für ein passender Spitzname – nicht als Verdächtige. Andererseits …
»Kennt sich Frau Fischer-Lause gut mit Computern aus?«
Torsten Kleinau lachte so sehr, dass er beinahe von seinem ergonomischen Bürostuhl fiel: »Oh je, nein. Einschalten ja. Aber den Rest muss ein Assistent machen.«
»Und wer ist das?«
»Bisher meistens ich. Aber in letzter Zeit weniger. Sie hat wohl jemand anderen gefunden. Soll mir recht sein.«
Andreas Amendt hatte schweigend zugehört. Jetzt sagte er: »Wir sollten noch mal mit ihr sprechen. Gehen wir doch gleich mal –«
»Spart euch den Weg. Sie ist nicht da«, unterbrach ihn Torsten Kleinau.
»Lass mich raten: Barcelona?«
»Nein, sie ist wirklich nicht da. Ihre Enkelin hat Geburtstag. Sie ist heute früh nach Köln gefahren. Kommt erst am Montag zurück.«
Katharina hasste es, eine heiße Spur nicht gleich verfolgen zu können. Dann würde sie sich eben erst einmal die anderen Verdächtigen vornehmen müssen. Also, auf zu stop!.
***
Hasko Beyer hatte Katharina schon erspäht, noch bevor Stop!-Mein-Name-ist-Sarah sie anmelden konnte. Er lotste Katharina wieder in das Konferenzzimmer.
Na, wenn das kein Glücksfall war: fast alle Verdächtigen in einem Raum beisammen. Um den Tisch standen Wigo, Hartmut Farber, der Grafiker, und Ernesto Langmann. Hasko Beyer schloss vorsichtig die Tür: »Wir müssen dringend mit Ihnen sprechen, Frau Klein.«
War sie aufgeflogen? Sicherheitshalber ließ Katharina einen Riemen ihrer Handtasche von der Schulter rutschen. Wer wusste, ob sie nicht ihre Waffe brauchte.
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