»Warum?«, fragte Amendt streng zurück.
»Schädelverletzungen sind nicht immer sofort tödlich. Äußere Verletzungen wie etwa Prellungen können durch die Haare verdeckt werden. Und oft haben die Verletzten zunächst nur Kopfschmerzen und werden selbst von erfahrenen Ärzten nach Hause geschickt.«
»Sehr gut.« Er wandte sich an die Studenten. »An dieser Stelle möchte ich Ihnen jemanden vorstellen, der diese Vorlesung heute Morgen mit mir zusammen halten wird: Kriminalhauptkommissarin Katharina Klein vom KK 11 der Frankfurter Kriminalpolizei.«
Katharina stand auf und stellte sich an die Seite von Andreas Amendt. Die Studenten schauten einander überrascht an. Einer flüsterte leise: »Die Killer Queen.«
»Wer weiß, was ein ›masurisches Handtuch‹ ist?«, fragte Katharina, ihren Spitznamen überhörend. Niemand meldete sich.
»Ein ›masurisches Handtuch‹ ist einfach ein nasses Handtuch. Eine hinterhältige Mordwaffe. Kann sich jemand denken, warum?«
Eine Studentin meldete sich schüchtern: »Wenn jemand mit einem nassen Handtuch erwürgt wird, entstehen keine Würgemale? – Das habe ich mal in einem Krimi gelesen.«
Katharina schmunzelte: »Auch wenn in Krimis meistens hanebüchener Unsinn steht: In diesem Fall haben Sie recht. In einem meiner ersten Fälle hier in Frankfurt war ein ›masurisches Handtuch‹ die Mordwaffe. Auch hier hatte der Arzt einen Herzanfall attestiert und die Leiche freigegeben. Zum Glück war sie für eine Feuerbestattung vorgesehen.«
Amendt fragte die Studenten: »Warum ›zum Glück‹?«
Keine Antwort.
»Okay! Das Testat der nächsten Woche ist ›Rechtsgrundlagen der Leichenschau‹. Die Unterlagen finden Sie auf unserer Homepage.«
Die Studenten murmelten protestierend.
»Es handelt sich um zehn Seiten, meine Herrschaften. Das sollte auch für Sie zu bewältigen sein. Also: Bei einer Feuerbestattung ist eine zweite Leichenschau durch einen Amtsarzt zwingend vorgeschrieben!«
»Und diesem Arzt …«, nahm Katharina den Ball wieder auf, »… fiel etwas auf, das sofort auf Erdrosseln hindeutete.«
Sie machte die Pause eigentlich nur, um Luft zu holen. Doch ein Student wollte offenbar seinen Kommilitonen die Amendt’sche Inquisition ersparen: »Geplatzte Äderchen in den Augen?«
»Ganz genau. Er untersuchte die Leiche also genauer und stellte einen eingedrückten Kehlkopf fest. Zudem fand er Hautspuren unter den Fingernägeln des Toten. Eine DNA-Analyse ergab, dass die Spuren von einem nahen Verwandten stammten; tatsächlich war es sein Bruder und Haupterbe.«
Andreas Amendt ergänzte: »Wenn Ihnen also eine Leiche auch nur annähernd suspekt vorkommen sollte: Achten Sie darauf, möglichst keine Spuren zu zerstören. Sichern Sie Kleidung und Umgebung. Und rufen Sie im Zweifelsfall lieber einmal mehr die Kriminalpolizei.«
Ein Mann im Publikum, älter als die anderen Studenten, meldete sich: »Wie sind Sie darauf gekommen, die DNA-Spuren mit dem Opfer zu vergleichen?«
»Das ist eigentlich das normale Verfahren«, antwortete Katharina. »Man vergleicht DNA-Spuren zunächst einmal mit dem Opfer, um sicherzustellen, dass sie wirklich von einer anderen Person stammen. Das Ergebnis in diesem Fall war auch ein wenig Glück.«
»Aber mit was vergleicht man sie sonst?«
»Natürlich mit der DNA von möglichen Verdächtigen oder eventuell bereits gespeicherten Spuren.«
»Und wenn man keine Verdächtigen hat?«
»Nun, meistens ergibt sich irgendwann eine Vergleichsmöglichkeit.«
»Aber man ist doch heute so weit, dass man mittels DNA das Aussehen eines Menschen bestimmen kann, richtig?«
Katharina wollte antworten, aber Andreas Amendt war schneller: »Das ist in der Tat möglich. Allerdings sind solche Analysen aufwendig und teuer. Und nur in Grenzen zuverlässig. Größe, Körperbau und anderes sind zwar genetisch angelegt, hängen aber genauso von der Umwelt ab. Ernährung, Sport.«
»Zudem«, ergänzte Katharina, »ist eine solche Analyse illegal. Der Gesetzgeber legt strengen Wert darauf, dass Analysen für forensische Zwecke nur sogenannte nicht codierte DNA nutzen. DNA also, die keine Erbgutinformationen trägt.«
»Aber wäre es nicht trotzdem wünschenswert, das Aussehen wenigstens ungefähr bestimmen zu können?«, fragte der Mann weiter.
Katharina betrachtete ihn: olivfarbener Teint, die kurzen, schwarzen Haare an den Schläfen bereits ergraut, dunkle Augen. »Woher kommen Sie ursprünglich?«
»Was hat das denn –?«
»Bitte antworten Sie. Woher kommt Ihre Familie?«
»Meine Mutter stammt aus dem Iran, mein Vater ist Deutscher.«
»Sind Sie in den letzten Jahren mal in die USA gereist?«
»Ja. Zum Urlaub.«
»Und bei der Einreise? Hat es da Probleme gegeben?«
»Ja, in der Tat. – Worauf wollen Sie hinaus?«
»Fanden Sie es richtig, dass einzig Ihr Aussehen Sie zu einem Verdächtigen macht?«
»Nein, natürlich nicht, aber –«
»Und warum sollte es dann vernünftig sein, aufgrund einer Analyse, die auf einen mittelgroßen, blonden Mann hinweist, alle mittelgroßen, blonden Männer unter Generalverdacht zu stellen?«
»Aber in einem Mordfall –«
»Wie Doktor Amendt schon sagte: Diese Profile sind sehr allgemein und können der Realität überhaupt nicht entsprechen. Auch wenn es natürlich sehr verführerisch klingt, alle Eigenschaften eines Täters in simple Zahlen übersetzt zu bekommen –«
Moment! Was hatte sie da gerade gesagt? Verflixt, warum war ihr das nicht schon längst aufgefallen?
»Ich bin gleich wieder da!« Katharina griff nach ihrer Handtasche und rannte los.
***
Torsten Kleinau fuhr erschrocken herum, als Katharina ins DNA-Labor gestürmt kam. Dann erkannte er sie: »Gut, dass Sie kommen. Ich bin durch mit –«
Katharina riss die Ausdrucke der seltsamen Mails an Melanie Wahrig aus ihrer Handtasche: »Sind das DNA-Analysen?«
Torsten Kleinau nahm die Papiere zögernd und blätterte sie durch. »Ja. Sogar ziemlich aufwendig. – Moment.« Er zog ein paar Folien aus einem Ordner und legte sie über die Ausdrucke: »Sehen Sie?«
Die Folien waren mit einem Tabellenraster bedruckt. Die scheinbar sinnlos platzierten Zahlen und Zeichen passten genau in die Felder der Tabellen.
»Was soll das denn?«, fragte Katharina.
»Verschlüsselungsmaßnahme. Steganografie für Arme. Aber jeder, der damit arbeitet, kann die Analysen bald auch ohne die Folien lesen.«
»Woher stammen diese Analysen?«
Torsten Kleinau zuckte mit den Achseln: »Nicht von hier. Wir verzichten auf diese Sperenzchen. Außerdem sehen unsere Raster anders aus.« Er deutete auf einen der Monitore.
»Und woher stammen sie dann? Können Sie das sagen?«
»Einige Forscher geben ihre Analysen nach draußen. Nach Kassel, Osnabrück oder Würzburg. Möglich, dass die Dokumente von da stammen. Kann ich aber nicht sagen. Die Analysen haben keine Seriennummern.«
»Wer an der Uni arbeitet denn mit solchen Analysen?«
»Konkret fällt mir nur Fischer-Lause ein. Sie hat ihre Analysen teilweise ausgelagert, um sich nicht mit der Rechtsmedizin herumärgern zu müssen.«
»Und Henthen?«
»Nee, der ist zu paranoid. Der arbeitet lieber hier. Das hier war ja eigentlich mal sein Labor.«
»Und das von Fischer-Lause. Ich weiß. Sie gehören doch zu ihrem Team, oder nicht?«
»Ja, in der Tat.«
»Dann sind Sie der Ein-Zell-DNA-Analytiker?«
»Genau. Das ist mein Forschungsgebiet. Warum?«
»Können Sie sich vorstellen, dass Fischer-Lause einer Patientin mit ein paar Gefälligkeitsgutachten hilft? Zum Beispiel, um aus einer Reihe von Kandidaten den passenden Vater auszuwählen?«
»Oma Lause als Verschwörerin?« Torsten Kleinau lachte. »Nun ja, für Frauen mit Fortpflanzungswunsch hat sie eigentlich immer ein offenes Ohr. Das würde auch erklären, warum diese Dokumente hier nicht offiziell sind und keine Seriennummer tragen.«
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